Italienische Reise. Johann Wolfgang Goethe
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Das Publikum war noch nicht befriedigt, es klatschte fort und rief: »I morti!« Das dauerte so lange, bis die zwei Toten auch herauskamen und sich bückten, da denn einige Stimmen riefen: »Bravi i morti!« Sie wurden durch Klatschen lange festgehalten, bis man ihnen gleichfalls endlich abzugehen erlaubte. Diese Posse gewinnt für den Augen- und Ohrenzeugen unendlich, der das »Bravo! Bravi!«, das die Italiener immer im Munde führen, so in den Ohren hat wie ich, und dann auf einmal auch die Toten mit diesem Ehrenwort anrufen hört.
»Gute Nacht!«, so können wir Nordländer zu jeder Stunde sagen, wenn wir im Finstern scheiden, der Italiener sagt: »Felicissima notte!« nur einmal, und zwar wenn das Licht in das Zimmer gebracht wird, indem Tag und Nacht sich scheiden, und da heißt es denn etwas ganz anderes. So unübersetzlich sind die Eigenheiten jeder Sprache; denn vom höchsten bis zum tiefsten Wort bezieht sich alles auf Eigentümlichkeiten der Nation, es sei nun in Charakter, Gesinnungen oder Zuständen.
Den 6. Oktober.
Die Tragödie gestern hat mich manches gelehrt. Erstlich habe ich gehört, wie die Italiener ihre eilfsilbigen Iamben behandeln und deklamieren, dann habe ich begriffen, wie klug Gozzi die Masken mit den tragischen Figuren verbunden hat. Das ist das eigentliche Schauspiel für dieses Volk; denn es will auf eine krude Weise gerührt sein, es nimmt keinen innigen, zärtlichen Anteil am Unglücklichen, es freut sie nur, wenn der Held gut spricht; denn aufs Reden halten sie viel, sodann aber wollen sie lachen oder etwas Albernes vornehmen.
Ihr Anteil am Schauspiel ist nur als an einem Wirklichen. Da der Tyrann seinem Sohne das Schwert reichte und forderte, dass dieser seine eigne gegenüberstehende Gemahlin umbringen sollte, fing das Volk laut an, sein Missvergnügen über diese Zumutung zu beweisen, und es fehlte nicht viel, so wäre das Stück unterbrochen worden. Sie verlangten, der Alte sollte sein Schwert zurücknehmen, wodurch denn freilich die folgenden Situationen des Stücks wären auf gehoben worden. Endlich entschloss sich der bedrängte Sohn, trat ins Proszenium und bat demütig, sie möchten sich nur noch einen Augenblick gedulden, die Sache werde noch ganz nach Wunsch ablaufen. Künstlerisch genommen aber war diese Situation nach den Umständen albern und unnatürlich, und ich lobte das Volk um sein Gefühl.
Jetzt verstehe ich besser die langen Reden und das viele Hin- und Herdissertieren im griechischen Trauerspiele. Die Athenienser hörten noch lieber reden und verstanden sich noch besser darauf als die Italiener; vor den Gerichtsstellen, wo sie den ganzen Tag lagen, lernten sie schon etwas.
An den ausgeführten Werken Palladios, besonders an den Kirchen, habe ich manches Tadelnswürdige neben dem Köstlichsten gefunden. Wenn ich nun so bei mir überlegte, inwiefern ich recht oder unrecht hätte gegen einen solchen außerordentlichen Mann, so war es, als ob er dabei stünde und mir sagte: »Das und das habe ich wider Willen gemacht, aber doch gemacht, weil ich unter den gegebenen Umständen nur auf diese Weise meiner höchsten Idee am nächsten kommen konnte.«
Mir scheint, so viel ich auch darüber denke, er habe bei Betrachtung der Höhe und Breite einer schon bestehenden Kirche, eines ältern Hauses, wozu er Fassaden errichten sollte, nur überlegt: »Wie gibst du diesen Räumen die größte Form? Im Einzelnen musst du wegen eintretenden Bedürfnisses etwas verrücken oder verpfuschen, da oder dort wird eine Unschicklichkeit entstehen, aber das mag sein, das Ganze wird einen hohen Stil haben, und du wirst dir zur Freude arbeiten.«
Und so hat er das größte Bild, das er in der Seele trug, auch dahin gebracht, wo es nicht ganz passte, wo er es im Einzelnen zerknittern und verstümmeln musste.
Der Flügel in der Carità dagegen muss uns deshalb von so hohem Werte sein, weil der Künstler freie Hand hatte und seinem Geist unbedingt folgen durfte. Wäre das Kloster fertig geworden, so stünde vielleicht in der ganzen gegenwärtigen Welt kein vollkommeneres Werk der Baukunst.
Wie er gedacht und wie er gearbeitet, wird mir immer klarer, je mehr ich seine Werke lese und dabei betrachte, wie er die Alten behandelt; denn er macht wenig Worte, sie sind aber alle gewichtig. Das vierte Buch, das die antiken Tempel darstellt, ist eine rechte Einleitung, die alten Reste mit Sinn zu beschauen.
Gestern Abend sah ich »Elektra« von Crébillon auf dem Theater St. Crisostomo, nämlich übersetzt. Was mir das Stück abgeschmackt vorkam, und wie es mir fürchterliche Langeweile machte, kann ich nicht sagen.
Die Akteurs sind übrigens brav und wissen das Publikum mit einzelnen Stellen abzuspeisen. Orest hat allein drei verschiedene Erzählungen, poetisch aufgestutzt, in einer Szene. Elektra, ein hübsches Weibchen, von mittlerer Größe und Stärke und fast französischer Lebhaftigkeit, einem guten Anstand, spricht die Verse schön, nur betrug sie sich von Anfang bis zu Ende toll, wie es leider die Rolle verlangt. Indessen habe ich doch wieder gelernt. Der italienische, immer eilfsilbige Iambe hat für die Deklamation große Unbequemlichkeit, weil die letzte Silbe durchaus kurz ist und wider Willen des Deklamators in die Höhe schlägt.
Den 6. Oktober.
Heute früh war ich bei dem Hochamte, welchem der Doge jährlich an diesem Tage wegen eines alten Siegs über die Türken in der Kirche der heiligen Justina beiwohnen muss. Wenn an dem kleinen Platz die vergoldeten Barken landen, die den Fürsten und einen Teil des Adels bringen, seltsam gekleidete Schiffer sich mit rot gemalten Rudern bemühen, am Ufer die Geistlichkeit, die Brüderschaften mit angezündeten, auf Stangen und tragbare silberne Leuchter gesteckten Kerzen stehen, drängen, wogen und warten, dann mit Teppichen beschlagene Brücken aus den Fahrzeugen ans Land gestreckt werden, zuerst die langen violetten Kleider der Savj, dann die langen roten der Senatoren sich auf dem Pflaster entfalten, zuletzt der Alte, mit goldener phrygischer Mütze geschmückt, im längsten goldenen Talar mit dem Hermelinmantel aussteigt, drei Diener sich seiner Schleppe bemächtigen, alles auf einem kleinen Platz vor dem Portal einer Kirche, vor deren Türen die Türkenfahnen gehalten werden, so glaubt man auf einmal eine alte gewirkte Tapete zu sehen, aber recht gut gezeichnet und koloriert. Mir nordischem Flüchtling hat diese Zeremonie viele Freude gemacht. Bei uns, wo alle Feierlichkeiten kurzröckig sind, und wo die größte, die man sich denken kann, mit dem Gewehr auf der Schulter begangen wird, möchte so etwas nicht am Ort sein. Aber hierher gehören diese Schleppröcke, diese friedlichen Begehungen.
Der Doge ist ein gar schön gewachsener und schön gebildeter Mann, der krank sein mag, sich aber nur noch so, um der Würde willen, unter dem schweren Rocke gerade hält. Sonst sieht er aus wie der Großpapa des ganzen Geschlechts und ist gar hold und leutselig; die Kleidung steht sehr gut, das Käppchen unter der Mütze beleidigt nicht, indem es, ganz fein und durchsichtig, auf dem weißesten, klarsten Haar von der Welt ruht.
Etwa funfzig Nobili in langen dunkelroten Schleppkleidern waren mit ihm, meist schöne Männer, keine einzige vertrackte Gestalt, mehrere groß, mit großen Köpfen, denen die blonden Lockenperücken wohl ziemten; vorgebaute Gesichter, weiches, weißes Fleisch, ohne schwammig und widerwärtig auszusehen, vielmehr klug, ohne Anstrengung, ruhig, ihrer selbst gewiss, Leichtigkeit des Daseins und durchaus eine gewisse Fröhlichkeit.
Wie sich alles in der Kirche rangiert hatte und das Hochamt anfing, zogen die Brüderschaften zur Haupttüre herein und zur rechten Seitentüre wieder hinaus, nachdem sie Paar für Paar das Weihwasser empfangen und sich gegen den Hochaltar, den Dogen und den Adel geneigt hatten.
Den 6. Oktober.
Auf heute Abend hatte ich mir den famosen Gesang der Schiffer bestellt, die den Tasso und Ariost auf ihre eignen Melodien singen. Dieses muss wirklich bestellt werden, es kommt nicht gewöhnlich vor, es gehört vielmehr zu den halb verklungenen Sagen der Vorzeit. Bei Mondenschein bestieg ich eine