Maigret beim Minister. Georges Simenon
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Maigret beim Minister - Georges Simenon страница 3
»Leider ist es das, worum es hier geht.«
Vorhin in der Metro hatte Maigret versucht zu erraten, was der Minister auf dem Herzen haben konnte. Aber der Fall Clairfond war ihm dabei nicht in den Sinn gekommen, obwohl die Zeitungen seit einem Monat voll davon waren.
Das in vierzehnhundert Metern Höhe zwischen Ugines und Megève in der Haute-Savoie gelegene Sanatorium von Clairfond war einer der spektakulärsten Bauten der Nachkriegszeit.
Maigret erinnerte sich nicht, wer die Idee gehabt hatte, für benachteiligte Kinder eine solche Unterbringung zu schaffen, die mit den modernsten Privatsanatorien vergleichbar war. Es war schon etliche Jahre her. Damals war viel davon gesprochen worden. Manche hatten darin eine rein politische Unternehmung gesehen, und in der Kammer waren leidenschaftliche Debatten darüber entbrannt. Eine Kommission war einberufen worden, um das Projekt zu begutachten, das, lange bekämpft, schließlich verwirklicht worden war.
Vor einem Monat hatte sich die Katastrophe ereignet, eine der schlimmsten seit Menschengedenken. Die Schneeschmelze war ungewöhnlich früh eingetreten. Die Gebirgsbäche waren angeschwollen, und die Lize, ein unterirdischer Fluss, so unbedeutend, dass er nicht einmal auf den Karten verzeichnet ist, war zu einem reißenden Strom angeschwollen und hatte die Grundmauern eines Flügels von Clairfond gesprengt.
Die Untersuchung, die gleich am Morgen nach der Katastrophe begonnen hatte, war noch nicht abgeschlossen. Die Sachverständigen waren sich uneinig. Und auch die Zeitungen vertraten je nach Gesinnung verschiedene Ansichten.
Einhundertachtundzwanzig Kinder hatten bei dem Einsturz eines der Gebäude den Tod gefunden. Die übrigen waren umgehend evakuiert worden.
Nach kurzem Schweigen murmelte Maigret:
»Sie waren noch nicht im Kabinett, als Clairfond erbaut wurde, oder?«
»Nein, ich war nicht einmal Mitglied der parlamentarischen Kommission, die die Kredite bewilligt hat. Genau genommen wusste ich bis vor wenigen Tagen von der ganzen Sache nur das, was alle Welt aus der Zeitung weiß.«
Er machte eine Pause und fuhr dann fort:
»Haben Sie von dem Calame-Bericht gehört, Kommissar?«
Maigret sah ihn überrascht an und schüttelte den Kopf.
»Sie werden noch davon hören. Sie werden mehr als genug davon hören. Wahrscheinlich lesen Sie nicht die kleinen Klatschblätter wie zum Beispiel La Rumeur.«
»Nein, nie.«
»Kennen Sie Hector Tabard?«
»Dem Namen und dem Ruf nach. Meine Kollegen in der Rue des Saussaies kennen ihn bestimmt besser als ich.«
Er spielte auf die Sûreté an, die unmittelbar dem Innenministerium unterstand und oft mit mehr oder weniger politischen Angelegenheiten zu tun hatte.
Tabard war ein zweifelhafter Journalist, dessen Wochenzeitung nur Gerüchte enthielt und als Erpresserblatt galt.
»Lesen Sie das hier. Es ist sechs Tage nach der Katastrophe erschienen.«
Es war kurz und geheimnisvoll.
Wird man sich unter dem Druck der öffentlichen Meinung eines Tages entschließen, den Inhalt des Calame-Berichts bekanntzugeben?
»Ist das alles?«, fragte der Kommissar verwundert.
»Hier ein Auszug aus der folgenden Nummer.«
Entgegen der allgemeinen Annahme wird die gegenwärtige Regierung weder wegen einer außenpolitischen Frage noch wegen der Ereignisse in Nordafrika bereits vor Ende des Frühlings gestürzt werden, sondern wegen des Calame-Berichts. Wer besitzt den Calame-Bericht?
Die Worte Calame-Bericht klangen fast komisch, und Maigret lächelte bei der Frage:
»Wer ist Calame?«
Point dagegen lächelte nicht. Während er seine Pfeife in einen großen Messingaschenbecher entleerte, erklärte er:
»Ein Professor an der Hochschule für Straßen- und Brückenbau. Er ist vor zwei Jahren gestorben, an Krebs, wenn ich mich nicht irre. Sein Name ist der breiten Öffentlichkeit kaum bekannt, aber in der Welt des Bauwesens ist er berühmt. Calame ist als Berater bei Großprojekten in so verschiedenen Ländern wie Japan oder Südamerika hinzugezogen worden, und er war eine unumstrittene Autorität auf dem Gebiet der Baumaterialien, vor allem des Betons. Er hat ein Buch geschrieben, das weder Sie noch ich gelesen haben, das aber alle Architekten besitzen. Sein Titel lautet Die Krankheiten des Betons.«
»War Calame am Bau von Clairfond beteiligt?«
»Indirekt. Lassen Sie mich Ihnen die Geschichte anders erzählen, nach einer persönlicheren Chronologie. Als sich die Katastrophe ereignete, wusste ich wie gesagt über das Sanatorium nur das, was in den Zeitungen stand. Ich erinnerte mich nicht einmal, ob ich fünf Jahre zuvor für oder gegen das Projekt gestimmt hatte. Ich musste erst im Officiel nachlesen, dass ich dafür gestimmt hatte. Auch ich lese La Rumeur nicht. Erst nach der zweiten Veröffentlichung dort hat mich der Ministerpräsident beiseitegenommen und gefragt:
›Kennen Sie den Calame-Bericht?‹
Ich habe ihm ehrlich mit Nein geantwortet. Er schien überrascht, und ich bin nicht sicher, ob er mich nicht mit einem gewissen Misstrauen angeblickt hat.
›Er muss sich aber doch in Ihrem Archiv befinden‹, hat er dann gesagt.
Und er hat mir berichtet, dass im Zuge der Debatten über Clairfond vor fünf Jahren, als die parlamentarische Kommission gespalten war, irgendein Abgeordneter vorgeschlagen hat, von einem bedeutenden Bausachverständigen ein Gutachten anzufordern.
Er hat den Namen Julien Calame von der Hochschule für Straßen- und Brückenbau genannt. Dieser hat eine Weile die Baupläne studiert und ist dann sogar selbst in die Haute-Savoie gefahren, um sich das Ganze vor Ort anzusehen.
Daraufhin hat er einen Bericht verfasst, der die Kommission erreicht haben müsste.«
Maigret glaubte zu verstehen.
»War der Bericht ungünstig?«
»Warten Sie. Als der Ministerpräsident mir von der Sache berichtete, hatte er schon Recherchen in den Archiven der Kammer angeordnet. Man hätte den Bericht in den Akten der Kommission finden müssen. Aber nicht nur dieser, sondern auch ein Teil der übrigen Unterlagen war verschwunden.
Ist Ihnen klar, was das bedeutet?«
»Dass einige daran interessiert sind, dass der Bericht niemals veröffentlicht wird?«
»Lesen Sie hier.«
Es war ein neuer Auszug aus La Rumeur, ebenfalls kurz, aber nicht weniger drohend.
Wird Arthur Nicoud mächtig genug sein, um das Erscheinen des Calame-Berichts zu verhindern?
Maigret kannte diesen Namen, wie er hundert andere kannte. Er kannte vor allem die Firma Nicoud