Der Mann ohne Eigenschaften. Robert Musil

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Der Mann ohne Eigenschaften - Robert Musil

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hat, wenn Licht, Wärme, Kraft, Genuß, Bequemlichkeit Urträume der Menschheit sind, – dann ist die heutige Forschung nicht nur Wissenschaft, sondern ein Zauber, eine Zeremonie von höchster Herzens- und Hirnkraft, vor der Gott eine Falte seines Mantels nach der anderen öflnet, eine Religion, deren Dogmatik von der härten, mutigen, beweglichen, messerkühlen und -scharfen Denklehre der Mathematik durchdrungen und getragen wird.

      Allerdings, es ist nicht zu leugnen, daß alle diese Urträume nach Meinung der Nichtmathematiker mit einemmal in einer ganz anderen Weise verwirklicht waren, als man sich das ursprünglich vorgestellt hatte. Münchhausens Posthorn war schöner als die fabriksmäßige Stimmkonserve, der Siebenmeilenstiefel schöner als ein Kraftwagen, Laurins Reich schöner als ein Eisenbahntunnel, die Zauberwurzel schöner als ein Bildtelegramm, vom Herz seiner Mutter zu essen und die Vögel zu verstehn, schöner als eine tierpsychologische Studie über die Ausdrucksbewegungen der Vogelstimme. Man hat Wirklichkeit gewonnen und Traum verloren. Man liegt nicht mehr unter einem Baum und guckt zwischen der großen und der zweiten Zehe hindurch in den Himmel, sondern man schafft; man darf auch nicht hungrig und verträumt sein, wenn man tüchtig sein will, sondern muß Beefsteak essen und sich rühren. Genau so ist es, wie wenn die alte untüchtige Menschheit auf einem Ameisenhaufen eingeschlafen wäre, und als die neue erwachte, waren ihr die Ameisen ins Blut gekrochen, und sie muß seither die gewaltigsten Bewegungen ausführen, ohne dieses lausige Gefühl von tierischer Arbeitsamkeit abschütteln zu können. Man braucht wirklich nicht viel darüber zu reden, es ist den meisten Menschen heute ohnehin klar, daß die Mathematik wie ein Dämon in alle Anwendungen unseres Lebens gefahren ist. Vielleicht glauben nicht alle diese Menschen an die Geschichte vom Teufel, dem man seine Seele verkaufen kann; aber alle Leute, die von der Seele etwas verstehen müssen, weil sie als Geistliche, Historiker und Künstler gute Einkünfte daraus beziehen, bezeugen es, daß sie von der Mathematik ruiniert worden sei und daß die Mathematik die Quelle eines bösen Verstandes bilde, der den Menschen zwar zum Herrn der Erde, aber zum Sklaven der Maschine mache. Die innere Dürre, die ungeheuerliche Mischung von Schärfe im Einzelnen und Gleichgültigkeit im Ganzen, das ungeheure Verlassensein des Menschen in einer Wüste von Einzelheiten, seine Unruhe, Bosheit, Herzensgleichgültigkeit ohnegleichen, Geldsucht, Kälte und Gewalttätigkeit, wie sie unsre Zeit kennzeichnen, sollen nach diesen Berichten einzig und allein die Folge der Verluste sein, die ein logisch scharfes Denken der Seele zufügt! Und so hat es auch schon damals, als Ulrich Mathematiker wurde, Leute gegeben, die den Zusammenbruch der europäischen Kultur voraussagten, weil kein Glaube, keine Liebe, keine Einfalt, keine Güte mehr im Menschen wohne, und bezeichnenderweise sind sie alle in ihrer Jugend- und Schulzeit schlechte Mathematiker gewesen. Damit war später für sie bewiesen, daß die Mathematik, Mutter der exakten Naturwissenschaft, Großmutter der Technik, auch Erzmutter jenes Geistes ist, aus dem schließlich Giftgase und Kampfflieger aufgestiegen sind.

      In Unkenntnis dieser Gefahren lebten eigentlich nur die Mathematiker selbst und ihre Schüler, die Naturforscher, die von alledem so wenig in ihrer Seele verspürten wie Rennfahrer, die fleißig darauf los treten und nichts in der Welt bemerken wie das Hinterrad ihres Vordermanns. Von Ulrich dagegen konnte man mit Sicherheit das eine sagen, daß er die Mathematik liebte, wegen der Menschen, die sie nicht ausstehen mochten. Er war weniger wissenschaftlich als menschlich verhebt in die Wissenschaft. Er sah, daß sie in allen Fragen, wo sie sich für zuständig hält, anders denkt als gewöhnliche Menschen. Wenn man statt wissenschaftlicher Anschauungen Lebensanschauung setzen würde, statt Hypothese Versuch und statt Wahrheit Tat, so gäbe es kein Lebenswerk eines ansehnlichen Naturforschers oder Mathematikers, das an Mut und Umsturzkraft nicht die größten Taten der Geschichte weit übertreffen würde. Der Mann war noch nicht auf der Welt, der zu seinen Gläubigen hätte sagen können: Stehlt, mordet, treibt Unzucht – unsere Lehre ist so stark, daß sie aus der Jauche eurer Sünden schäumend helle Bergwässer macht; aber in der Wissenschaft kommt es alle paar Jahre vor, daß etwas, das bis dahin als Fehler galt, plötzlich alle Anschauungen umkehrt oder daß ein unscheinbarer und verachteter Gedanke zum Herrscher über ein neues Gedankenreich wird, und solche Vorkommnisse sind dort nicht bloß Umstürze, sondem führen wie eine Himmelsleiter in die Höhe. Es geht in der Wissenschaft so stark und unbekümmert und herrlich zu wie in einem Märchen. Und Ulrich fühlte: die Menschen wissen das bloß nicht; sie haben keine Ahnung, wie man schon denken kann; wenn man sie neu denken lehren könnte, würden sie auch anders leben.

      Nun wird man sich freilich fragen, ob es denn auf der Welt so verkehrt zugehe, daß sie immerdar umgedreht werden müsse? Aber darauf hat die Welt längst selbst zwei Antworten gegeben. Denn seit sie besteht, sind die meisten Menschen in ihrer Jugend für das Umdrehen gewesen. Sie haben es lächerlich empfunden, daß die Älteren am Bestehenden hingen und mit dem Herzen dachten, einem Stück Fleisch, statt mit dem Gehirn. Diese jüngeren Menschen haben immer bemerkt, daß die moralische Dummheit der Älteren ebenso ein Mangel an neuer Verbindungsfähigkeit ist wie die gewöhnliche intellektuelle Dummheit, und die ihnen selbst natürliche Moral ist eine der Leistung, des Heroismus und der Veränderung gewesen. Dennoch haben sie, sobald sie in die Jahre der Verwirklichung gekommen sind, nichts mehr davon gewußt und noch weniger wissen wollen. Darum werden auch viele, denen Mathematik oder Naturwissenschaft einen Beruf bedeuten, es als einen Mißbrauch empfinden, sich aus solchen Gründen wie Ulrich für eine Wissenschaft zu entscheiden.

      Trotzdem hatte er nun aber in diesem dritten Beruf, seit er ihn vor Jahren ergriffen hatte, nach fachmännischem Urteil gar nicht wenig geleistet.

      12

      Die Dame, deren Liebe Ulrich nach einem Gespräch über Sport und Mystik gewonnen hat

      Es stellte sich heraus, daß auch Bonadea nach großen Ideen strebte.

      Bonadea war die Dame, die Ulrich in seiner unglücklichen Boxnacht gerettet und am folgenden Morgen tiefverschleiert besucht hatte. Er hatte sie Bonadea getauft, die gute Göttin, weil sie so in sein Leben getreten war, und auch nach einer Göttin der Keuschheit, die im alten Rom einen Tempel besessen hat, der durch eine seltsame Umkehrung zum Mittelpunkt aller Ausschweifungen geworden ist. Sie wußte das nicht. Der klangvolle Name, den ihr Ulrich beigelegt hatte, gefiel ihr, und sie trug ihn bei ihren Besuchen wie ein prächtig gesticktes Hauskleid. «Ich bin also deine gute Göttin?» fragte sie – «deine Bona Dea?» – und die richtige Aussprache dieser beiden Worte erforderte es, daß sie ihm dabei die Arme um den Hals legte und ihn mit leicht zurückgeneigtem Kopf gefühlvoll anblickte.

      Sie war die Gattin eines angesehenen Mannes und die zärtliche Mutter zweier schönen Knaben. Ihr Lieblingsbegriff war «hochanständig»; sie wandte ihn auf Menschen, Dienstboten, Geschäfte und Gefühle an, wenn sie etwas Gutes von ihnen sagen wollte. Sie war imstande, «das Wahre, Gute und Schöne» so oft und natürlich auszusprechen, wie ein anderer Donnerstag sagt. Was ihr Ideenbedürfnis am tiefsten befriedigte, war die Vorstellung einer stillen, idealen Lebensführung in einem Kreis, den Gatte und Kinder bilden, während tief darunter das dunkle Reich «Führe mich nicht in Versuchung» schwebt und mit seinen Schauern das strahlende Glück zum sanften Lampenschein dämpft. Sie hatte nur einen Fehler, den, daß sie in einem ganz ungewöhnlichen Maß schon durch den Anblick von Männern erregbar war. Sie war durchaus nicht lüstern; sie war sinnlich, wie andere Menschen andere Leiden haben, zum Beispiel an den Händen schwitzen oder leicht die Farbe wechseln, es war ihr scheinbar angeboren, und sie konnte niemals dagegen aufkommen. Als sie Ulrich unter so romanhaften, die Phantasie außerordentlich erregenden Umständen kennengelernt hatte, war sie vom ersten Augenblick an zur Beute einer Leidenschaft bestimmt gewesen, die als Mitgefühl begann, nach kurzem, aber heftigem Kampfe in verbotene Heimlichkeiten überging und sich als ein Wechselspiel von Bissen der Sünde und der Reue fortsetzte.

      Aber Ulrich war in ihrem Leben der weiß Gott wievielte Fall. Männer pflegen solche liebessüchtige Frauen, sobald sie den Zusammenhang heraus haben, meist nicht viel besser zu behandeln als Idioten, die man mit den dümmsten Mitteln verleiten kann, immer wieder über das gleiche zu stolpern. Denn die zarteren Gefühle der männlichen Hingabe sind ungefähr so wie das Knurren eines Jaguars über einem Stück Fleisch, und eine Störung darin

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