Wolfsgrund. Gerda Stauner
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Wolfsgrund
Eine Spurensuche
Roman von Gerda Stauner
I M P R E S S U M
Titelfoto: Adi Spangler
Wolfsgrund – Eine Spurensuche
Autor: Gerda Stauner
ISBN: 9-783-98522-943-7
© 2021 Plum Garden Publishing
Alle Rechte vorbehalten.
93047 Regensburg, [email protected]
Prolog
Aus dem Dickicht pirscht lautlos ein imposantes Jungtier heran. Zögerlich hebt es den Kopf, die Augen blicken neugierig über das abfallende Gelände. Es schleicht in geduckter Haltung den Hang hinunter, bleibt immer wieder stehen, wittert. Unvermittelt setzt es zum Sprung an und landet auf dem vom vermodernden Herbstlaub der hundertjährigen Linde gepolsterten Boden. Der Wolf ist wohl auf der Suche nach einem neuen Revier die vielen Kilometer aus Tschechien über den Bayerischen Wald hierher in dieses Niemandsland gekommen. Nach mehr als 135 Jahren hat dieses majestätische Geschöpf erstmals wieder heimgefunden. Damals hatten die Menschen in Bayern alles daran gesetzt, die Wolfsrudel endgültig auszurotten.
Zwei tagscheue Hufeisennasen auf ihrem Weg ins Schlafquartier im Turm der kleinen Kirche schrecken kurz auf, drehen eine Extrarunde und schlüpfen dann in das alte Gemäuer. Vor Kurzem erst haben Menschen das Kirchlein wieder instand gesetzt, den Turm erneuert und in den Fensteröffnungen Einflughilfen für die geschützte Fledermausart angebracht. Im Inneren der Kirche ist es stockdunkel. Das zaghafte Rosa des kommenden Tages, das sich im Osten bemerkbar macht, dringt noch nicht durch die Ritzen der groben Holzplatten, die die Tür verschlossen halten. Doch ganz hinten, versteckt im ehemaligen Altarraum, flackert das rote Licht elektrischer Grableuchten. Wie lange mögen die Batterien schon halten? Der letzte Gottesdienst hat vor über acht Monaten stattgefunden. Es wurde Kirchweih gefeiert von denen, die einst hier lebten, und denen, die niemals hier leben dürfen.
Der schwache Schein des elektrischen Lichts lässt die Namen derer erahnen, die es nicht mehr geschafft haben, letzten Sommer hierherzukommen. Auf einer Holzplatte reihen sich die Sterbebilder der einstigen Bewohner aneinander. Einige wenige Plätze sind noch leer. Letztendlich, nach all den Jahren, sind die ehemaligen Nachbarn wieder vereint.
Neben den Sterbebildern fällt das Licht auf Namen, die direkt in den zerklüfteten Putz der alten Kirche geritzt wurden. Sie wirken ungewöhnlich an diesem Ort: James, Jefferson, Greg. Dabei stehen Jahreszahlen, die bezeugen sollen, wann diese Männer hier waren: 1986, 1992, 2000.
Ein Kratzen, ein Windhauch, wieder hat eine Hufeisennase den Weg in ihr Versteck gefunden. Der Marder hat bisher vergeblich versucht, durch die Einflughilfe ins Innere der Kirche zu gelangen. Er scheitert an der glatten Oberfläche der schwarzen Platten. Fände er mit seinen Krallen Halt, würde er wohl in einer Nacht die vom Aussterben bedrohten Tiere töten, die sich nur an wenigen Orten angesiedelt haben, wie hier in der Oberpfalz.
Draußen schleicht der Wolf näher an das verfallene Dorf heran. Vielleicht kann er noch einen Hauch des Lebens wittern, das hier vor fast siebzig Jahren pulsierte. Eine Kirche mit angebauter Kegelbahn, eine Dorfhüll, eine Brauerei mit Wirtschaft, eine Schmiede. Etliche Bauernhäuser, Stallungen und Bauerngärten mit angrenzenden Feldern und Wiesen schmiegten sich an die alte Dorfstraße.
Der Wolf spitzt die Ohren, bleibt reglos stehen. Hört er die Geister derer, die zurückgekommen sind, um hier ihre letzte Ruhe zu finden? Oder spürt er, dass die Menschen an diesem Ort im Wettstreit mit der Natur verloren haben? Dass sich hier, wo Bäume aus Fenstern wachsen und am Sonntag nur noch Fledermäuse die Kirche bevölkern, ein einzigartiges Schauspiel ereignet? Andernorts längst ausgestorbene Apfelsorten blühen Jahr für Jahr in der Abgeschiedenheit dieses Fleckens und bringen Herbst für Herbst reiche Ernte. Vögel, Insekten und die Tiere des Waldes genießen dieses überbordende Angebot an süßem Obst.
Das zaghafte Rosa hat sich in ein prächtiges Morgenrot verwandelt. Der Wolf scheint das Interesse an der Kirche und den Häusern verloren zu haben und schleicht auf seinen rauen Pfoten zurück ins Unterholz. In diesem Moment trifft das erste Licht des Tages auf die Reste eines Hauses, das ohne Dach schutzlos der Witterung und dem Verfall ausgesetzt ist. Im Bruchteil einer Sekunde werden die schillernden Überreste der blauen Wandbemalung sichtbar. Und man erhält eine Ahnung davon, wie es an diesem Ort einmal ausgesehen hat, mit wie viel Leben das Dorf erfüllt war. Hier wurden Menschen geboren und beerdigt, haben gelitten, gelacht und geliebt.
Eins
Die Einsamkeit ist seit Jahren Melchiors ständiger Begleiter. Er hat sich damit arrangiert. Wie ein alter, abgetragener Mantel umfängt ihn das vertraute Gefühl. Mit der Zeit hat es immer mehr Raum in seinem Leben eingenommen. Nun, kurz vor seinem Renteneintritt, hat er seinen Frieden damit gemacht, allein zu bleiben. In der Redaktion kursieren diverse Gerüchte über ihn: er sei schwul, seine Familie habe ihn schon vor Jahren wegen seines unzugänglichen Wesens verlassen, er sei beziehungsunfähig. Er selbst trägt nichts zu diesen Mutmaßungen bei, weder zu deren Unterstützung noch zu deren Entkräftung. Seit fast 45 Jahren arbeitet er für dieselbe Zeitung. Bald gibt es einen großen Empfang, sein 65. Geburtstag und gleichzeitig sein letzter Arbeitstag werden zusammen mit seinem Firmenjubiläum gefeiert. Aber keiner seiner alten Weggefährten wird da sein, um mit ihm anzustoßen. Seine Freunde aus alten Tagen sind entweder schon tot oder arbeiten seit Langem anderswo. Nur er ist geblieben, hat Krisen und Umzüge erlebt, hat Verleger, Redaktionsleiter und Volontäre kommen und gehen sehen. Außer ihm hat es nur der Pförtner ähnlich lange bei der Zeitung ausgehalten.
Schmidheim. Ein ganz gewöhnlicher Ortsname. Er verrät nichts über das tragische Schicksal des kleinen Dorfes. Melchior hat bereits in den Unterlagen geblättert, die ihm der Pressesprecher der Hohenfels Military Community zur Vorbereitung des Interviews zukommen ließ. Wieso der Chefredakteur ausgerechnet ihn für diese Aufgabe ausgewählt hat, bleibt ihm ein Rätsel. Andere, viel jüngere und engagiertere Redakteure hätten sich gefreut über diese Besichtigungstour durch das verlassene Niemandsland, weit weg vom eintönigen Büroalltag. Endlich mal rauskommen aus dem überdimensionierten Newsroom, in dem niemand mehr einen festen Arbeitsplatz hat. Aber ausgerechnet er, das Überbleibsel aus einer anderen Zeit, findet sich scheinbar am leichtesten mit dieser Neuerung zurecht. Um arbeiten zu können, braucht er nur einen gespitzten Bleistift und sein Notizbuch. Kein neumodisches Modell mit Gummibandverschluss und Hardcover, sondern ein einfaches Heft mit Deckeln aus stabilem Karton. Melchior hat etwa ein Dutzend davon in seinem Büroschrank verstaut. Das sollte bis zum Ende seiner Karriere als Zeitungsschreiber reichen.
Kurz bevor er aufbricht, erscheint unten rechts auf seinem Bildschirm das Symbol für eine neue Email. Käme die Nachricht nicht von seiner Redaktionsleiterin, würde er sie in diesem Moment wohl ignorieren. So aber überfliegt er sie:
PRESSEMITTEILUNG
Nr. 05 / 2019 10. März 2019
Natur
Landesamt für Umwelt: Wolfsriss im Landkreis Neumarkt i. d. Oberpfalz bestätigt
+++ Anfang Januar wurde auf dem Gelände des Truppenübungsplatzes Hohenfels im Landkreis Neumarkt i. d. Opf. ein erwachsenes