Wolfsgrund. Gerda Stauner
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Читать онлайн книгу Wolfsgrund - Gerda Stauner страница 5
Melchior redet sich ein, dass ein Telefongespräch mit seiner Großcousine Annette Teil seiner Recherchearbeit über Schmidheim wäre. Doch tief im Inneren weiß er, dass das nicht stimmt. Nur weil sie ihm den Stammbaum geschickt hat, heißt das noch lange nicht, dass sie etwas über den Ort weiß. Trotzdem sucht er auf dem ebenfalls im Ordner abgehefteten Anschreiben nach ihrer Telefonnummer. Zu seinem Erstaunen wohnt sie nur ein paar Straßen weiter. Wie kann es sein, dass ihm diese Tatsache nicht schon vorher aufgefallen ist? Ist er Annette womöglich schon einmal über den Weg gelaufen und hat sie nicht erkannt? Natürlich hätte er sie nicht erkannt! Es muss schon Jahrzehnte her sein, seit er sie zum letzten Mal gesehen hat. Es muss Anfang der 1970er Jahre gewesen sein, bei der Beerdigung ihrer gemeinsamen Großtante Sabina. Annette war damals ein schüchternes Kind, er selbst nur ein paar Jahre älter. Die Erinnerung an diesen Tag ist mit einem Mal wieder da. Er stand bei seinen Großeltern Theres und Anderl am Grab, seine Großcousine gegenüber. Sie wirkte einsam und verlassen, obwohl ihre Mutter direkt hinter ihr war. Als schließlich die erste Schippe Erde hohl auf dem Sarg aufschlug, fiel das Mädchen auf die Knie und begann zu schluchzen. Doch niemand kümmerte sich um sie, nicht einmal ihre Mutter nahm sie tröstend in die Arme. Vielmehr hatte Melchior den Eindruck, als ob diese sich ablehnend wegdrehte. Irgendetwas verband wohl die alte Frau und das Kind, sonst hätte der Tod die Kleine nicht so mitgenommen. Dass er sich nur kurze Zeit später selbst so einsam und verlassen fühlen würde, am Grab seiner Großmutter Theres, hatte er damals noch nicht ahnen können.
Würde er nicht bereits sitzen, hätte Melchior Angst davor umzukippen. Der Boden schwankt unter seinen Füßen. Es ist wirklich lächerlich, versucht er sich selbst Mut zuzusprechen. Ich rufe ständig Menschen an, wichtige und unwichtige, interviewe sie, kitzle Geheimnisse aus ihnen heraus, spreche über unangenehme Dinge. Wieso sollte dieses Gespräch anders sein? Aber er kann sich nichts vormachen, diese Situation war anders. Mit diesem Anruf würde er eine Verbindung zu seiner Vergangenheit herstellen, einen Draht zurück in eine Zeit spannen, die er lieber verdrängen und vergessen würde.
Er spürt wieder seine klammen, schweißnassen Hände und sein Blut scheint ausschließlich im unteren Drittel seines Körpers zu zirkulieren. Komm schon, es ist nur ein Anruf! Der Gedanke daran, dass nur ein paar Straßen entfernt Annettes Telefon läutet, lässt Melchior zurückzucken und den Hörer aus der Hand gleiten. Jetzt sei nicht kindisch! Es ist wieder die strenge Stimme, die zu ihm spricht. Sklaventreiber, nennt der Redakteur sie oft zum Spaß. Er hat ein ambivalentes Verhältnis zu dieser Stimme. Meist hilft sie ihm dabei, seine Artikel rechtzeitig fertigzustellen, Termine einzuhalten und an Sachen dranzubleiben. Doch in Momenten wie diesen verflucht er sie. Am liebsten würde er zurückbrüllen: Halt dein Maul, verzieh dich! Doch die Neugierde hindert ihn daran. Er denkt wieder an den verlassenen Ort, die verfallene Wirtschaft, das zur Fledermaushöhle umfunktionierte Kirchlein. Und an den Namen Bichlmeier.
Ruckartig steht er auf, springt zweimal hoch und reibt seine Handflächen aneinander. Das Blut beginnt wieder im ganzen Körper zu zirkulieren, seine Finger werden gelenkig und warm. Ohne sich noch weitere Gedanken zu machen, hebt er sein Handy auf und tippt ungelenk die Nummer seiner Großcousine ein.
„Ja? Hallo?“
Eine angenehme Frauenstimme dringt gedämpft an sein Ohr.
„Ja! Hier ist Melchior. Melchior Beerbauer. Wir sind …“, er räuspert sich. „Wir sind verwandt.“ Eine noch blödere Einleitung ist dir wohl nicht eingefallen, höhnt der Sklaventreiber.
Für zehn Sekunden herrscht Schweigen. Dann raschelt es in der Leitung. Melchior nimmt wahr, wie Enttäuschung sich in ihm ausbreitet. Sollte das Gespräch damit schon beendet sein? Doch im nächsten Moment hört er wieder die wohltuende Stimme, glasklar, als ob sie direkt neben ihm stehen würde.
„Wir müssen uns dreißig Jahre oder länger nicht mehr gesehen haben! Hast du meine Post bekommen?“
In ihrer Aussprache liegt ein vertrauter Klang, in dem Wärme mitschwingt. Melchior wird augenblicklich von einer Woge der Zuneigung erfasst. Wie kann das sein?
„Ja. Danke dafür.“ Auch er versucht freundlich und zugewandt zu klingen. „Das ist eigentlich der Grund meines Anrufs. Geht es dir gut? Wo bist du?“
„Mir geht es sehr gut. Ehrlich gesagt so gut wie schon seit Jahren nicht mehr. Im Moment bin ich in Malta und arbeite dort ehrenamtlich für eine Hilfsorganisation in der Seenotrettung.“
„Auf dem Mittelmeer?“
Die glasklare Verbindung hat ihn getäuscht. Er merkt, wie traurig er darüber ist.
„Nein. Ich helfe im Hafen von Malta beim Crewwechsel. Auf See hab ich mich noch nicht getraut.“
„Und wie lange wirst du weg sein?“
„Das kann ich noch nicht genau sagen. Die Saison hat gerade erst angefangen. Die Einsätze gehen bis in den Herbst hinein. Mal sehen, wie lange ich es hier aushalte.“
Enttäuschung überkommt ihn. Irgendwie hatte er angenommen, dass er Annette persönlich treffen könnte. Das war nun schlecht möglich.
„Aber du wolltest etwas ganz anderes wissen? Etwas über den Stammbaum, den ich dir geschickt habe?“
„Ja. Stimmt. Stell dir vor! Ich schreibe gerade einen Artikel über die Vertreibung der Menschen rund um den Truppenübungsplatz Hohenfels Mitte des 20. Jahrhunderts. Ich habe heute das ehemalige Dorf Schmidheim besucht und bin dabei auf den Namen Bichlmeier gestoßen. Diesen Namen habe ich nun auf unserem Stammbaum wiedergefunden! Unsere Urgroßmutter stammte aus diesem Dorf!“
Nun fühlt er sich wie ein Zauberer, der dem Publikum einen besonders spektakulären Trick gezeigt hat.
„Also genau gesagt ist es nur deine Urgroßmutter. Unser Urgroßvater war dreimal verheiratet. Ich stamme aus direkter Linie seiner ersten Frau ab.“
Ein angenehmes Lachen dringt durch den Hörer.
„Aber wir haben immerhin denselben Urgroßvater.“
Im nächsten Moment wird Annette wieder ernst.
„Und wir beide sind die letzten aus dieser Familie. Wusstest du das?“
Nun ist der Redakteur verwirrt. Er war immer der Meinung, dass er aus einer weitverzweigten Familie abstammte und es noch unzählige Verwandte gibt. Er geht zum Schreibtisch zurück und schaut sich den Stammbaum an. Es stimmt, außer ihm und Annette scheint niemand mehr da zu sein.
„Bist du dir da sicher? Vielleicht hat einfach jemand vergessen, den Stammbaum weiterzuführen?“
„Ich bin mir sicher. Nach dem Tod meiner Mutter habe ich mich lange mit unseren Vorfahren und deren Geschichte beschäftigt. Ich habe alte Briefe gelesen, Fotos sortiert und Geburts- und Sterbeurkunden studiert. Es ist niemand mehr da. Nur wir beide. Wie es scheint, sterben die Beerbauers mit uns aus. Soviel ich weiß, hast du keine Kinder. Und dass ich keine habe, kann ich dir mit Sicherheit sagen.“
Ihr Tonfall ist weder verbittert noch drückt er Bedauern aus. Melchior hat das Gefühl, als ob Annette mit dieser Tatsache kein Problem hätte. Ganz anders als er. Tausend unterschiedliche Gedanken und Bilder tauchen auf. Franzi, Fichtenried, sein Großvater Anderl und seine Großmutter Theres. Seine Knie werden wieder weich und er kann nicht anders, als sich auf seinen Bürostuhl fallen zu lassen. Plötzlich sieht er nur noch ein Bild vor sich: einen struppigen Wolf, der einsam durch das verlassene Dorf Schmidheim streift.
Jetzt reiß dich zusammen! Der Sklaventreiber