Wolfsgrund. Gerda Stauner
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„Eine sehr gute Wahl!“, lobt ihn der Mann an der Kasse. „Es ist unser letztes Exemplar. Soviel ich weiß, ist die Auflage ausverkauft. Es wird wohl auch keine weitere geben, das Interesse an diesem Teil unserer Geschichte hat stark nachgelassen. Liegt vor allem daran, dass bald niemand mehr da ist, der die Vertreibung von dort noch selbst miterlebt hat.“
Melchior runzelt die Stirn. Er fühlt sich überrumpelt, findet keine Antwort auf die Ausführungen seines Gegenübers. Dieser scheint seinen Fauxpas sofort zu bereuen.
„Tut mir leid, ich rede manchmal einfach so vor mich hin.“
„Nein, ist schon in Ordnung. Ich hatte das Buch nur intuitiv aus dem Regal genommen, ohne weiter darüber nachzudenken. Ich hatte kürzlich mit dem Thema zu tun, daher kam wohl mein Interesse. Aber nun weiß ich eigentlich gar nicht mehr, was ich damit soll.“
Der andere deutet auf die Tageszeitung, die neben der Liste liegt.
„Haben Sie den Artikel geschrieben?“
Melchior fühlt sich ertappt. Er nickt langsam.
„Wunderbar! Ich habe ihn mit Freude gelesen! Sie haben das wirklich fabelhaft recherchiert.“ Er macht eine kleine Verbeugung. „Ich kann das beurteilen. Meine Tante stammte aus einem Nachbardorf von Schmidheim und musste 1951 ebenfalls alles zurücklassen. Sie hat oft darüber gesprochen und der Verlust hat sie sehr geprägt.“
„Danke, das freut mich sehr. Also Ihr Lob meine ich. Nicht die Tatsache, dass Ihre Tante alles verloren hat.“
„Schreiben Sie weiter darüber?“
Die Frage ist wohl nur eine höfliche Floskel. Melchior hat nicht den Eindruck, als ob der Mann wirklich an einer Antwort interessiert wäre. Er tippt bereits den Betrag in die Kasse und wartet auf sein Geld. Melchior begleicht seine Schuld in bar und verabschiedet sich mit einem unverbindlichen „Mal sehen“. Zurück in der Gasse spürt er, wie seine schlechte Stimmung einem bekannten Aktionismus weicht. Der innere Antreiber meldet sich zu Wort. Sofort ist es positiv angestachelt und beginnt zu überlegen, wie er mehr aus der Geschichte herausholen könnte. Pfeifend und mit zielstrebigen Schritten macht er sich auf den Heimweg.
Vier
Daheim angekommen steuert Melchior direkt das Arbeitszimmer und seinen Schreibtisch an. Wie immer, wenn er am Anfang einer vielversprechenden Geschichte sitzt, ist er angespannt, aber auf eine sehr positive Art und Weise. Man könnte es vielleicht mit einer Jagd vergleichen, bei der man am Anfang noch nicht genau weiß, was auf einen zukommen wird. Er hat sich drei Gründe zurechtgelegt, wieso er sich an dem Projekt versuchen will. Erstens will er seine Zwangspause nicht mit Belanglosigkeiten füllen. Bald geht er in Rente. Dann bleibt ihm noch genügend Zeit um lange Spaziergänge zu machen, stundenlang über Rezepten zu schmökern und dann umständlich in der ganzen Stadt die exotischen Zutaten dafür zusammenzutragen oder um sich vielleicht sogar sportlich zu betätigen. Zweitens hat ihn der Ehrgeiz gepackt und er empfindet den lapidar dahingeworfenen Vorschlag seiner Redaktionsleiterin als Herausforderung. Er will beweisen, dass er mehr drauf hat, als ein einfacher Wald- und Wiesenschreiber bei einer Lokalzeitung zustande bringt. Den dritten Grund will er sich zuerst nicht eingestehen. Doch seit der Redaktionskonferenz treibt ihn etwas um, das er so noch nicht kannte: Er hat das Gefühl Verantwortung tragen zu müssen. Verantwortung für die Beerbauers, für seine Familie. Das Bild von Anderl taucht vor ihm auf. Für den Großvater waren seine Frau, seine Tochter und sein Enkelkind das Wichtigste in seinem Leben. Für sie hätte er alles gegeben. Mehr noch, er hat sich Zeit seines Lebens für jeden eingesetzt, der unter seinem Dach lebte. Seine Familie und sein Hof waren ihm heilig. Um beide zu schützen, setzte er am Ende des Zweiten Weltkriegs sogar sein eigenes Leben aufs Spiel.
Der Hof ist schon lange verkauft und somit für immer verloren. Nun liegt es an Melchior, zumindest die Gene dieser Familie weiterzutragen und den Namen zu vererben. Sollte er in diesem Punkt auch noch scheitern, wäre er wohl in den Augen seiner Vorfahren ein Versager, oder?
Wäre jetzt der richtige Zeitpunkt, um endlich reinen Tisch zu machen? Sobald er es wagt, diesen Gedanken zu formulieren, steigt die Angst in ihm auf, Franzi zu verlieren. Seit dreißig Jahren hadert er mit seinem Fehltritt und dessen Folgen. Zum wohl tausendsten Mal verflucht er sich und Ella und würde alles dafür geben, um ungeschehen zu machen, was in dieser lauen Sommernacht passierte. Um Franzi die Wahrheit zu sagen, dazu fehlt ihm der Mut. Sie würde ihrer Freundschaft ein Ende bereiten und diese Vorstellung ängstigt Melchior mehr als alles andere. Er kann und möchte seinen besten Freund nicht verlieren. Er ist alles, was ihm geblieben ist. Franzi, Ella und Caspar sind nun seine Familie.
Melchior vergräbt sein Gesicht zwischen den Händen und ist bemüht, seine Atmung unter Kontrolle zu bringen. Das Gefühl zu ersticken blockiert sein Denken. Krampfhaft versucht er sich an die Technik zu erinnern, die Asthmatiker in dieser Situation anwenden. Dann fällt es ihm wieder ein: die Lippenbremse. Beim Ausatmen lässt er die Luft durch eine kleine Öffnung der Lippen entweichen. So entsteht ein Rückstau, der die Lungen wieder weitet. Langsam reguliert sich seine Atmung und er wird ruhiger.
Zehn Minuten später hat er sich wieder gefangen. Sein Blick fällt auf den Familienstammbaum, der bei den Unterlagen liegt, die er für den gestrigen Artikel gebraucht hatte. Aus Erzählungen seiner Oma weiß er, dass die Ehe seiner Urgroßmutter Agathe mit seinem Urgroßvaters Anton Beerbauer arrangiert war. Der Witwer hatte nach dem Tod seiner zweiten Frau Sabina deren Schwester geheiratet. Melchior versucht sich vorzustellen, wie Agathe sich damals gefühlt haben mag und beginnt ohne weiter darüber nachzudenken mit dem Schreiben. Er hat den richtigen Einstieg für die Geschichte gefunden, auch wenn der über ein halbes Jahrhundert vor der Vertreibung der Schmidheimer liegt.
1895
Der Gedanke an das neue Jahrhundert lässt Agathe nicht mehr los, seit der Pfarrer letzten Sonntag in seiner Predigt darüber gesprochen hat. Das zwanzigste Jahrhundert steht vor der Tür, hatte er von der Kanzel herab verkündet. Mit dieser Zeitenwende seien die Menschen mehr als je gefordert auf dem rechten Weg zu bleiben, die zehn Gebote einzuhalten und rechtschaffene Christen zu sein. Man habe ja gesehen, wie sehr sich die Welt mit der Eisenbahn verändert habe, die vor gut drei Jahrzehnten ungläubige Italiener ins Land gebracht habe. Aber waren Italiener nicht auch Christen wie wir, hatte Agathe da für sich gedacht. Der Pfarrer beharrte darauf, dass mit der Zeitenwende noch viel Schlimmes auf seine armen Schäflein zukommen würde. Um welche Schlechtigkeiten und Prüfungen es sich genau handelte, führte er nicht aus. Er ließ seine Gemeinde viel lieber mit der Ungewissheit und einem unguten Gefühl zurück.
Agathe schaut zum zweiten Mal an diesem heißen Sommertag nach, ob die Hühner endlich ihre Eier gelegt haben. Sie geht gerne in den Verschlag, der am Ende des Gemüsegartens hinter dem Haus steht. Dort kann sie zumindest für ein paar Augenblicke ihren Gedanken nachhängen und wird nicht sofort von den Eltern getadelt, weil die Arbeit liegen bleibt. Aus den Augen, aus dem Sinn. Dieses Sprichwort ist in diesem Fall tatsächlich wahr. Anders ergeht es der jungen Frau dabei mit Ludwig, dem jungen Wirtssohn aus Schmidheim. Obwohl sie ihn schon seit zwei Tagen nicht gesehen hat, taucht sein Bild mit dem spitzbübischen Gesichtsausdruck immer auf, wenn sie die Augen schließt. Tag und Nacht verfolgt sie die Erinnerung an seine hochgewachsene Statur und seine samtweichen Hände.
„Agathe?“ Die Stimme ihrer Mutter holt sie in die Realität zurück. Sie beeilt sich die Eier einzusammeln, legt sie behutsam in ihre Schürze und hastet zurück zum Haus.
Der