Wolfsgrund. Gerda Stauner
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„Wie geht es dir?“, ist alles, was sie darauf antwortet. Doch er kann ihre Aufregung spüren, ihre Brust hebt und senkt sich in einem schnellen Rhythmus unter dem eng geschnürten Leinenstoff. Er nimmt ihre linke Hand und streichelt sie behutsam.
„Jetzt, wo du da bist, geht es mir wunderbar. So gut wie schon seit Jahren nicht mehr!“
„Aber Ludwig, sag sowas nicht! Ich bin jetzt die Frau eines anderen. Für uns beide gibt es keine Zukunft mehr.“
„Das ist mir egal. Alles was zählt, ist deine Anwesenheit. Hier und Jetzt. Was morgen ist, interessiert mich nicht. Alleine, dass du heute gekommen bist, zeigt mir, dass es dir ähnlich geht. Du kannst mir nichts vormachen.“
Ohne Vorankündigung schließt Ludwig die junge Frau in seine Arme und gibt ihr einen leidenschaftlichen Kuss. Er spürt, wie ihr Herz noch einen Takt schneller schlägt und wie sie sich fest an ihn drängt. Als er sie genauso unvermittelt wieder loslässt und ruckartig aufsteht, fällt Agathe fast von der Kirchenbank. Einer der Buben schreckt durch ihre hektische Bewegung kurz auf, schließt jedoch sofort wieder die Augen und schläft weiter.
„Ich bin heute Abend mit dem Gebetläuten dran. Wir treffen uns danach in der Kegelbahn, ich werde den Schlüssel besorgen und aufschließen. Bis dann.“
Den letzten Satz hat er vom Eingang aus gesprochen, ohne sich noch einmal umzudrehen. Wenn er sie jetzt noch einmal ansehen würde, könnte er sich wohl nicht mehr von ihr lösen.
Agathe kann ihre Unruhe während der nächsten Stunden nur schlecht verbergen. Ihrer Mutter erklärt sie ihre Fahrigkeit damit, dass sie sich um Anton und den Hof sorgt. Diese Erklärung scheint ausreichend zu sein und die junge Frau wird nicht weiter mit Fragen bedrängt. So gut es geht, hilft sie beim Kochen und beim Ausbacken der Kirchweihküchel in Butterschmalz. Die beiden Buben spielen währenddessen in der sonnigen Stube, der Vater ist draußen auf dem Hof und bessert das Ochsengeschirr aus. Die Minuten wollen nicht vergehen. Endlich hört sie die ferne Kirchturmglocke, sie zählt im Stillen vier Mal für die volle Stunde und vier weitere Male. Ein Flattern geht durch ihren Körper, bis in die Fingerspitzen hinein spürt sie es.
Die Mutter kommt herein und fragt, ob der Kaffee schon fertig sei. Agathe schüttelt stumm den Kopf, hastet zur alten Kaffeemühle und gibt die Bohnen hinein. Donatus steht auf und will die schwergängige Kurbel drehen. Sie ist dankbar für die Ablenkung und zeigt dem Jungen, in welche Richtung er drehen muss. Für die nächste Stunde ist sie mit ihren Gedanken voll und ganz bei ihren Eltern und den Kindern. Doch als die Kirchturmglocke eine Stunde später erneut schlägt, kommt das Flattern zurück. Stärker als zuvor und mit schweißnassen Händen umklammert Agathe die feine Porzellantasse. Zur Kirchweihfeier hatte die Mutter das gute Geschirr mit den blauen Blumenranken aus dem Schrank geholt.
Nach endlosen dreißig Minuten gibt sie vor eine alte Schulfreundin besuchen zu wollen und macht sich auf den Weg nach Schmidheim. Die Buben bleiben bei den Großeltern. Die Sonne steht schon tief und wirft lange, bizarre Schatten auf den ausgefahrenen Hohlweg. Um sich abzulenken, sucht sie in den schwarzen Gebilden auf dem Boden Ähnlichkeiten mit Sagengestalten. Sie meint den Bilmesschneider mit seiner scharfen Sense zu erkennen, der einem armen Sünder mit einem raschen Schnitt die Kehle durchschneidet und die fette Drud, die ihre Opfer mit ihrem dicken Hinterteil erstickt.
Die Gedanken an die grausamen Gesellen lenken die junge Frau etwas ab. Kurze Zeit später erreicht sie den Hof vom Gruber. Schmidheim wird von den letzten Sonnenstrahlen in ein goldenes Licht getaucht und die Kirchturmspitze strahlt darin hell wie ein Stern. Plötzlich fällt die ganze Anspannung von Agathe ab. Hier ist ihr Zuhause, das weiß sie in diesem Moment genau. Auch wenn sie noch fünfzig Jahre in Fichtenried leben wird, dieses Gefühl wird sie nirgendwo anders empfinden können.
In diesem Moment taucht Ludwig auf. Er schlendert vom Wirtshaus in Richtung Kapelle. Gleich wird er mit dem Gebetläuten beginnen. Kurz vor dem Eingang schaut er sich verstohlen um, macht einen kleinen Schlenker zur angrenzenden Kegelbahn und sperrt die Tür auf. Dann verschwindet er in der Kapelle. Kurz darauf hört Agathe die Glocken läuten. Es klingt für sie nach einer Einladung. Einer Einladung nach Hause zu kommen.
Der darauffolgende Herbst war wie immer arbeitsreich gewesen. Aber als der einbrechende Winter Stille und Ruhe mit sich bringt, kann Agathe sich nicht mehr vor der Tatsache verschließen, dass sie zum dritten Mal Mutter wird. Und auch über die Vaterschaft braucht sie sich nichts vorzumachen. Sie hofft inständig, dass Anton nicht merken wird, wessen Kind sie in sich trägt.
Im Dorf wird viel über die Jahrhundertwende gesprochen, über allerhand Zeichen und Vorankündigungen spekuliert, die das zwanzigste Jahrhundert als Bedrohung erscheinen lassen. Agathe will sich dieses Geschwätz nicht anhören. Sie ist viel zu sehr mit ihrem eigenen Fehltritt beschäftigt. Sie will sich nicht eingestehen, was sie so sehr zu Ludwig hingezogen hatte. Nach ihrer Rückkehr aus Schmidheim hatte sie ihr normales Leben als Ehefrau weitergeführt und war glücklich gewesen. Abgesehen von ihrem schlechten Gewissen Anton gegenüber war sie dies auch jetzt noch.
Kurz hadert sie nun damit, ihre Missetat dem Pfarrer zu beichten. Sie hatte ja gegen das sechste Gebot verstoßen. Aber dann kommt sie zu dem Schluss, dass es weder die Kirche, noch den Pfaffen, noch sonst jemanden etwas anging. Die Tatsache, dass sie schwanger geworden war, empfand sie als Strafe genug. Damit und mit ihrem schlechten Gewissen, mit dem sie nun tagtäglich leben musste, würde sie hinreichend büßen. Und sie nahm sich vor, Schmidheim und die Kirchweih zumindest im nächsten Jahr zu meiden.
Sechs
Melchior sitzt am Montagmorgen an seinem Schreibtisch und es fällt ihm schwer, den Computer zu starten. Die letzte Woche hatte er intensiv mit der Recherche über das dörfliche Leben in Bayern an der Schwelle zum zwanzigsten Jahrhundert verbracht. Anschließend schrieb er an seiner Geschichte weiter, ohne Ablenkung. Das danach anbrechende Wochenende verbrachte er mit einem ausgiebigen Einkauf auf dem Markt, gutem Essen und der Lektüre liegen gebliebener Bücher, die sich auf dem Boden neben seinem Bett angesammelt hatten. Den Sonntag beschloss er mit einem schweren Rotwein und dem Vorsatz, seine Geschichte am Montag Korrektur zu lesen.
Er kann sich nicht mehr an alle Einzelheiten erinnern, über die er geschrieben hat. Der Journalist spürt, dass sich in ihm etwas sperrt, er die Textdatei nicht öffnen will. Ihm fallen Details ein, die er recherchiert hat, die ungewöhnlich hohe Rate der Kindersterblichkeit im Gebiet rund um den Truppenübungsplatz, die Wasserknappheit, das karge, harte Leben der Landbevölkerung. Dies alles waren nur die Hintergrundinformationen für eine Geschichte, die er sich selbst ausgedacht hatte. Selbst sein eigener Familienstammbaum bot ihm nur Namen und Zahlen. Alles was mit den Menschen passierte, sich zwischen seinen Figuren abspielte, entstand allein in seiner Vorstellung, war nur in seiner Fantasie real.
Nun hat er Angst vor dem, was entstanden ist. Hat er zu viel von seiner eigenen Geschichte in den Text einfließen lassen? Hat er unbewusst eigene Erlebnisse verarbeitet? Es ist natürlich, dass er sich nicht mehr an alles erinnert, was er je zu Papier gebracht hat, das weiß er. „Schreiben, um zu vergessen.“ Diesen Satz hat er irgendwo mal gelesen. Ist es bei ihm ebenso? Schreibt er diese Geschichte, um etwas zu überwinden, das er lieber vergessen und ruhenlassen sollte?
Er ist an einem Punkt angekommen, an dem es zwei Wege gibt. Er kann das Dokument ungeöffnet in den Papierkorb schieben, die Bücher und Notizen wegpacken und die Email vom Pressesprecher löschen. Er kann die restlichen zwei Wochen seines Zwangsurlaubs in den Tag hinein leben, lesend und kochend verbringen. Danach wird er ausgeruht in der Redaktion erscheinen und die letzten Monate bis zu seiner Rente weitermachen wie bisher.
Oder