Wolfsgrund. Gerda Stauner

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Wolfsgrund - Gerda Stauner

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die Botschaft, die er im Gepäck hat, gut oder schlecht ist, will sich dies aber um keinen Preis anmerken lassen. Geschäftsmäßig öffnet er die schwere Ledertasche, sucht umständlich nach dem Umschlag und übergibt diesen schließlich an den Blombauer. Adressiert ist die kurze Nachricht auf den Namen Bichlmeier, aber in ganz Schmidheim kennt man die Familie nur unter ihrem Hausnamen. Oft hat der Austräger Mühe, die Botschaften beim richtigen Adressaten abzuliefern, weil ihn die Familiennamen verwirren.

      Er bleibt stehen und wartet auf die Reaktion des Bauern. Eigentlich will er so schnell wie möglich weiter, doch er weiß, dass es bei einer Nachricht wie dieser seine christliche, nächstenliebende Pflicht ist, Trost zu spenden. Er hat selbst eine Tochter und kann sich vorstellen, wie schrecklich die Botschaft über den Tod des eigenen Kindes sein muss.

      Diese sture Matz, entfährt es dem Blombauern. Er versucht nicht, seine Stimme zu senken. Soll sie es doch hören. Es ist ihm egal. Seit der Nachricht über Sabinas Tod, die so unerwartet kam und ihn mehr betrübte, als er sich je hätte vorstellen können, bereitet ihm seine Zweitgeborene nur noch Ärger und Verdruss. Nichts kann sie ihm recht machen. Beim Melken ist sie zu grob zu den Kühen, den Schweinen gibt sie zu viel zu fressen und die Suppe gerät ihr entweder zu fad oder ist versalzen. Dass er selbst das Problem ist und seinen Kummer auf Agathe überträgt und sie für den Tod der Erstgeborenen leiden lässt, diesen Gedanken schiebt er weit weg. Aber an der Idee seiner Frau, den verwitweten Schwiegersohn mit der jüngeren Tochter zu verheiraten, könnte er Gefallen finden. Zum einen würde er vielleicht noch die ersehnten, leiblichen Enkelkinder bekommen, die Sabina ihm nicht schenken konnte. Gleichzeitig könnte sich Agathe um die Stieftochter ihrer Schwester kümmern. Sabina hatte aufopferungsvoll für die kleine Maria gesorgt und versucht, ihr die verstorbene Mutter zu ersetzen.

      Und zum anderen wäre endlich der Romanze mit dem windigen Wirtssohn ein Ende gesetzt. Diese Liebschaft ist ihm schon lange ein Dorn im Auge. Nur hat er nicht gewusst, wie er eine Heirat verhindern konnte. Bisher hatte es der Ludwig nicht gewagt, um die Hand von Agathe anzuhalten. Dazu würde es nun auch nicht mehr kommen. Für ihn war es ausgemachte Sache, der Beerbauer würde nun auch noch seine zweite Tochter zur Frau nehmen. Die Aussteuertruhe stand bereits gepackt auf dem Dachboden.

      Schon von Weitem sieht Ludwig die zierliche Gestalt, die auf der staubigen Dorfstraße zögerlich auf das Wirtshaus zugeht. Er hat Agathe sofort erkannt, die schmale Silhouette, das rotgemusterte Kopftuch unter dem die dunklen Haare hervorquellen, der aufrechte Gang. Sein Herz setzt für einen kurzen Moment aus und er schnappt nach Luft. Nun ist es also soweit, nun wird sie sich endgültig von ihm verabschieden.

      „Ludwig!“, mehr als dieses eine Wort bringt sie nicht über ihre Lippen.

      Wortlos geht er auf sie zu, nimmt sie an der Hand und zieht sie hinter den kleinen Anbau an der Kirche, in dem seit einiger Zeit die Kegelbahn untergebracht ist. Dann schließt er seine Arme fest um ihren kleinen Körper und spürt, wie in diesem Moment alle Anspannung von ihr abfällt und sie weich und verletzlich unter seinen muskulösen Armen wird. Dort, wo Agathes Wange sein Hemd berührt, fühlt er eine feuchte Wärme. Er kann nicht feststellen, ob das schwüle Wetter oder ihre stillen Tränen dafür verantwortlich sind.

      Die letzten Tage und Wochen hatten sich beide immer wieder heimlich getroffen und überlegt, was sie dem ungeheuerlichen Vorschlag von Agathes Eltern entgegensetzen konnten. Doch alle Grübelei hatte zu keinem Ergebnis geführt. Ohne Einwilligung der Eltern hätten sie nicht heiraten können. Ludwig nicht, weil er beruflich von der Wirtschaft und der Brauerei der Eltern abhängig war, und Agathe nicht, weil sie noch minderjährig war. Sie hätten Schmidheim und den Einödhof verlassen, zusammen anderswo neu anfangen müssen, vielleicht sogar auswandern. Aber davor hatte Ludwig insgeheim noch mehr Angst, als seine Liebste zu verlieren. So redete er ihr gut zu, versprach ihr sie immer im Herzen zu behalten und versuchte nicht an den Abschied zu denken.

      Nun aber ist der Tag gekommen, an dem sie die Frau eines anderen werden wird. Agathe wird auf den Kammerwagen steigen und die Ochsen werden diesen nach Fichtenried ziehen.

      „Versprichst mir, dass du jedes Jahr zur Kirchweih heimkommst?“

      Die junge Frau schaut auf. Der Tränenfilm verleiht ihren Augen einen geheimnisvollen Ausdruck. Für einen kurzen Moment ist er davon überzeugt, dass er ohne sie nicht leben und er jedes Opfer für sie bringen kann. Doch im nächsten Augenblick ist er in Gedanken wieder bei der Wirtschaft, seinen Eltern, der Brauerei und Schmidheim. Nein, er kann hier nicht weggehen.

      „Ja, nächstes Jahr im Juli werde ich zur Kirchweih zurückkommen. Ich versprech es dir!“

      Sie drückt sich fest an ihn, gibt ihm einen Kuss, von dem er inständig hofft, dass es nicht der letzte in seinem Leben sein wird, dreht sich um und geht aufrecht und zügig in Richtung Oberschmidheim. Ludwig bleibt alleine und mit einer bisher ungekannten Leere zurück. Er legt eine Hand auf seine Brust und streicht gedankenverloren darüber. Die Reibung erzeugt ein warmes, angenehmes Gefühl, welches zumindest für einen Moment die Einsamkeit vertreibt.

      Agathes Vater steigt ab und führt das Ochsengespann auf dem abschüssigen Hohlweg durch die steile Rechtskurve. Nun liegt Schmidheim vor ihnen. Fast alle Bewohner sind zum Abschied vor die Häuser gekommen und blicken dem Fuhrwerk entgegen. Linkerhand sind die kleinen Höfe vom Gruber und vom Lindlbauern zu sehen. Gegenüber, auf der anderen Straßenseite, dümpelt der Rest der Dorfhüll vor sich hin, welche durch den heißen und regenarmen Sommer nur noch wenig Wasser bereithält. Sie lassen die kleine Kapelle mit der angrenzenden Kegelbahn, die heute verlassen daliegt, hinter sich. Rechterhand kann Agathe prächtig blühende Blumen im Bauerngarten der Kollerin ausmachen, die von allen Frauen im Dorf darum beneidet wird. Werde ich in Fichtenried auch so einen Garten anlegen können, so ein Blütenmeer mit meinen Händen schaffen, grübelt Agathe. Die verstorbene Schwester hatte dafür nichts übrig, das weiß sie. Die pragmatische Sabina hatte lediglich Gemüse angebaut. Die junge Frau ertappt sich dabei, wie sie sich ihre Zukunft ausmalt. Sofort bekommt sie ein schlechtes Gewissen. Sie hat Schmidheim noch nicht einmal verlassen, doch schon träumt sie von ihrem neuen Leben. Wie kann das sein? Vor wenigen Stunden hatte sie noch Ludwig geküsst! Agathe senkt ihren Blick und knetet krampfhaft ihre Hände. Sie ist verwirrt, hin- und hergerissen zwischen ihrem alten Leben und der ungewissen Zukunft. Plötzlich überkommt sie die Angst davor, was sie in ihrer neuen Heimat erwarten wird. Tränen steigen auf, die sie nur mühsam unterdrücken kann.

      Wenn sie sich jetzt nach links wenden würde, könnte sie einen Blick auf die Wirtschaft werfen, doch das traut sie sich nicht. Vielleicht würde sie Ludwig noch einmal sehen, aber ihr Blick bleibt weiterhin auf ihre Hände gerichtet, wohl wissend, dass sie andernfalls schluchzend zusammenbrechen würde. Agathe zählt langsam bis zehn und trocknet ihre Augen mit einem Baumwolltuch. Dann erst schaut sie wieder nach vorne. Gerade passieren sie die Schmiede, die nach der Brauerei den Gebäudekomplex der Wirtsfamilie vervollständigt. Sie denkt an den einzigen Brunnen im Ort, der direkt hinter dem Anwesen liegt und in diesem Spätsommer schon lange kein Wasser mehr vorhält. Als Kind saß sie oft auf dem gemauerten Rand und blickte in die undurchdringliche Dunkelheit hinunter, fest davon überzeugt, dass das Böse dort lauern würde.

      Der Vater hebt hier und da die Hand zum Gruß und die Mutter lächelt eigentümlich, fast stolz. Dann haben sie endlich das Dorf hinter sich gelassen und biegen kurz darauf auf einen breiteren Weg ab. Aber schon nach dieser kurzen Strecke hat sich die staubige Erde in einer feinen Schicht auf ihre Aussteuer gelegt. Nach ihrer Ankunft wird sie erst einmal die Stühle, den Tisch, die große Truhe und das breite Bett reinigen und feucht abwischen müssen. Doch irgendwie ist es für die junge Frau ein Trost zu wissen, dass sie mit dem trockenen, braunen Staub auch etwas Heimat nach Fichtenried bringen wird.

      Fünf

      Es fällt Melchior tatsächlich leicht, sich in die Zeit vor über 120 Jahren zurückzuversetzen, in die Vorstellungswelt und die

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