Zweiundzwanzig Bücher über den Gottesstaat, Band 2. Augustinus von Hippo
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Indes darf man nicht überall unsere Sprechweise auf diese Sonderbedeutungen einschränken, zuweilen jedoch sind sie am Platz; und bei den [heiligen] Schriftstellern, vor deren Autorität die eigene Meinung verstummen muß, sind solche Sonderbedeutungen überall da anzunehmen, wo die richtige Auslegung zu keinem andern Ergebnis zu gelangen vermag; so in den Stellen, die ich als Beispiele teils aus einem Propheten, teils aus dem Evangelium vorgeführt habe. Wer wüßte auch nicht, daß die Gottlosen jauchzen vor Lust? Und doch „spricht der Herr: Es findet sich keine Freude bei den Gottlosen“. Das kann doch nur daher kommen, daß Freude im besonderen und engeren Sinn etwas anderes ist als Lust. Und ebenso liegt auf der Hand, daß zu Unrecht geboten wird, den Leuten all das zu tun, was man von ihnen für sich verlangt; damit würde ja gegenseitiger Ergötzung durch schändliche und unerlaubte Lust das Wort gesprochen; und gleichwohl ist es ein sehr heilsames und wohlbegründetes Gebot: „Wonach immer ihr Verlangen habt, daß es euch die Leute tun, das sollt auch ihr ihnen tun“. Wiederum nur deshalb, weil hier „Verlangen“ in einem besonderen Sinne gebraucht ist und nicht nach der schlimmen Seite gedeutet werden kann. Allein der sonst allgemein übliche Sprachgebrauch kennt auch ein böses Verlangen; sonst könnte es nicht heißen[50] : „Trage kein Verlangen, irgendeine Lüge zu sagen“, und in ausdrücklichen Gegensatz zu diesem bösen Willen wird der gesetzt, den die Engel verkündigt haben[51] : „Friede auf Erden den Menschen, die eines guten Willens sind“. Hier ist ja „gut“ ganz überflüssig, wenn die Willensrichtung nur gut sein kann. Und wenn der Apostel zum Lob der Liebe aussagt, daß sie sich nicht freue der Ungerechtigkeit[52] , so gewinnt dieses Lob seine Kraft nur dadurch, daß sich die Bosheit in dieser Weise freut. Denselben unterschiedslosen Gebrauch dieser Wörter findet man auch bei den weltlichen Schriftstellern. Cicero, der hochgefeierte Redner, sagt[53] : „Ich begehre, milde zu sein, versammelte Väter“. Er hat also hier dieses Wort in gutem Sinne gebraucht, und wer möchte ein solcher Wortfuchser sein, zu behaupten, er hätte „verlangen“ statt „begehren“ sagen sollen! Ferner bei Terenz sagt ein lasterhafter junger Mensch, von toller Begierde entbrannt[54] : „Ich verlange nichts anderes als Philumene“. Daß dieses Verlangen unreine Begier gewesen, zeigt sattsam die Antwort, die seinem vernünftigeren Sklaven in den Mund gelegt wird: „Es wäre weit besser, du bemühtest dich, solche Liebe in deinem Herzen zu ersticken, statt Dinge zu reden, die deine Begier noch mehr und doch umsonst anfachen“. Daß sie auch Freude in schlimmer Bedeutung gebrauchten, bezeugt jener Vergilische Vers, worin die vier Gemütsbewegungen auf den kürzesten Ausdruck gebracht sind[55] ;
„Dies die Quelle der Furcht und Begier, des Schmerzes, der Freude“.
Und an anderer Stelle[56] spricht derselbe Dichter von „den schlimmen Freuden des Geistes“.
Und also verlangen und hüten sich und freuen sich die Bösen sowohl wie die Guten, oder um dasselbe mit andern Worten zu sagen: es begehren, fürchten sich und hegen Lust die Guten sowohl wie die Bösen; aber die einen auf gute, die andern auf böse Art, je nachdem die Träger dieser Stimmungen und Gemütsbewegungen einen geraden oder einen verkehrten Willen haben. Und auch die Traurigkeit, für die die Stoiker kein Gegenstück im Geiste des Weisen zu entdecken vermochten, findet sich in gutem Sinne, namentlich in unserm Schrifttum. So lobt der Apostel die Korinther, daß sie sich gottgefällig betrübt hätten. Aber vielleicht wendet man gegen die Heranziehung dieser Stelle ein, daß der Apostel ihnen Glück gewünscht habe zu einer bußfertigen Betrübnis, wie sie nur möglich ist bei solchen, die gesündigt haben. Er schreibt nämlich[57] : „Ich sehe, daß jener Brief, wenigstens im Augenblick, euch betrübt hat; jetzt freue ich mich, nicht daß ihr euch betrübt habt, sondern daß ihr euch zur Buße betrübt habt. Denn ihr habt euch gottgefällig betrübt, so daß ihr durch uns auf keine Weise Schaden leidet. Denn die gottgefällige Traurigkeit bewirkt Buße zum Heil, die niemals reut; die Traurigkeit der Welt dagegen bewirkt den Tod. Seht doch nur, welchen Eifer eben diese gottgefällige Traurigkeit in euch zuwege gebracht hat.“ Und so können die Stoiker zu ihren Gunsten geltend machen, die Traurigkeit scheine wohl in der Form der Reue über die Sünde nützlich zu sein; im Geiste des Weisen aber könne sie sich schon deshalb nicht finden, weil ihm weder eine Sünde zustößt, durch deren Buße er sich betrüben müßte, noch sonst ein Übel, dessen Ertragung und Empfindung ihn traurig machte. Man erzählt ja selbst von Alcibiades [wenn ich mich nicht im Namen irre], er habe geweint, als ihm Sokrates abstritt, daß er glücklich sei, wofür er sich hielt, und ihm bewies, wie unglücklich er sei, da er töricht sei[58] . Für ihn war also die Torheit der Grund dieser ebenfalls nützlichen und wünschenswerten Traurigkeit, die sich darauf bezieht, daß man etwas ist, was man nicht sein soll. Allein nicht der Tor, sondern der Weise gilt den Stoikern erhaben über die Traurigkeit.
9. Im Leben der Gerechten haben die Gemütserregungen eine Stelle, aber sie sind auf das rechte Ziel gerichtet.
Indes haben wir uns mit den genannten Philosophen über die Frage der Gemütserregungen schon auseinandergesetzt im neunten Buch[59] und darauf hingewiesen, daß es ihnen mehr um Worte als um die Sache und mehr um Rechthaberei als um die Wahrheit zu tun sei. Bei uns dagegen kennen die auf der irdischen Wanderschaft gottgemäß lebenden Bürger der heiligen Stadt Gottes in Übereinstimmung mit der Heiligen Schrift und der gesunden Lehre alle diese Regungen, Furcht, Begierde, Schmerz, Freude, und weil ihre Liebe auf das rechte Ziel gerichtet ist, so sind bei ihnen auch alle diese Regungen in der rechten Ordnung. Sie fürchten die ewige Strafe und begehren nach dem ewigen Leben; sie empfinden Schmerz in der Gegenwart, weil[60] sie in sich selbst noch erseufzen, die Annahme an Kindesstatt, die Erlösung ihres Leibes, erst noch erwartend; sie freuen sich in Hoffnung, weil[61] „erfüllt werden wird das Wort, das geschrieben steht: Verschlungen ist der Tod vom Siege“. Weiter fürchten sie zu sündigen, begehren auszuharren, fühlen Schmerz ob ihrer Sünden, freuen sich an guten Werken. Die Furcht zu sündigen schöpfen sie aus dem Wort[62] : „Weil die Ungerechtigkeit Überhand nimmt, wird die Liebe bei vielen erkalten“, und das Verlangen auszuharren aus dem Wort[63] : „Wer ausharrt bis ans Ende, der wird selig werden“, und den Schmerz ob ihrer Sünden aus dem Wort[64] : „Wenn wir sagen, wir hätten keine Sünde, so betrügen wir uns selbst, und die Wahrheit ist nicht in uns“, und die Freude an guten Werken aus dem Wort[65] : „Einen freudigen Geber liebt Gott“, Weiter — je nach ihrer inneren Schwäche oder Stärke — fürchten sie versucht zu werden oder verlangen danach; sind betrübt in Versuchungen oder freuen sich in solchen. Ihre Furcht schöpfen sie aus dem Wort[66] : „Wenn einer von irgendeiner Sünde übereilt worden sein sollte, so überweiset ihr, die ihr geistlich seid, einen solchen im Geiste der Sanftmut, und hab acht, daß nicht auch du versucht wirst“ ; und ihr Verlangen, versucht zu werden, aus dem Worte, das ein Held des Gottesstaates spricht[67] : „Prüfe mich, Herr, und versuche mich, erforsche mit Feuer meine Nieren und mein Herz“; und den Schmerz in Versuchungen aus dem Beispiel des weinenden Petrus, und die Freude in solchen aus den Worten des Jakobus[68] : „Erachtet es als eitel Freude, meine Brüder, wenn ihr in mancherlei Versuchungen fallet“.
Und nicht nur um ihrer selbst willen geben sie sich solchen Regungen hin, sondern auch um anderer willen, deren Erlösung sie wünschen, deren Untergang sie fürchten, und über deren Untergang sie betrübt sind, über deren Rettung sie sich freuen. Einen vor allem wollen wir nennen, die wir von den Heiden her in die Kirche Christi gekommen sind, den Lehrer der Heiden im Glauben und in der Wahrheit, den vortrefflichen Helden, der sich seiner Schwachheiten rühmt[69] , ihn, der mehr als