Gesammelte Werke (Über 150 Titel in einem Band). Rosa Luxemburg
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Konrad Schmidt nennt freilich die jetzige gewerkschaftliche Bewegung „schwächliche Anfangsstadien“ und verspricht sich von der Zukunft, daß „das Gewerkschaftswesen auf die Regulierung der Produktion selbst einen immer steigenden Einfluß gewinnt“. Unter der Regulierung der Produktion kann man aber nur zweierlei verstehen: die Einmischung in die technische Seite des Produktionsprozesses und die Bestimmung des Umfangs der Produktion selbst. Welcher Natur kann in diesen beiden Fragen die Einwirkung der Gewerkschaften sein? Es ist klar, daß, was die Technik der Produktion betrifft, das Interesse des Kapitalisten mit dem Fortschritt und der Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaft in gewissen Grenzen zusammenfällt. Es ist die eigene Not, die ihn zu technischen Verbesserungen anspornt. Die Stellung des einzelnen Arbeiters hingegen ist gerade entgegengesetzt: jede technische Umwälzung widerstreitet den Interessen der direkt dadurch berührten Arbeiter und verschlechtert ihre unmittelbare Lage, indem sie die Arbeitskraft entwertet, die Arbeit intensiver, eintöniger, qualvoller macht. Insofern sich die Gewerkschaft in die technische Seite der Produktion einmischen kann, kann sie offenbar nur im letzteren Sinne, d. h. im Sinne der direkt interessierten einzelnen Arbeitergruppe handeln, also sich Neuerungen widersetzen. In diesem Falle handelt sie aber nicht im Interesse der Arbeiterklasse im ganzen und ihrer Emanzipation, die vielmehr mit dem technischen Fortschritt, d. h. mit dem Interesse des einzelnen Kapitalisten übereinstimmen, sondern gerade entgegengesetzt, im Sinne der Reaktion. Und in der Tat, wir finden das Bestreben, auf die technische Seite der Produktion einzuwirken, nicht in der Zukunft, wo Konrad Schmidt sie sucht, sondern in der Vergangenheit der Gewerkschaftsbewegung. Sie bezeichnet die ältere Phase des englischen Trade Unionismus (bis in die 60er Jahre), wo er noch an mittelalterlich-zünftlerische Überlieferungen anknüpfte und charakteristischerweise von dem veralteten Grundsatz des „erworbenen Rechts auf angemessene Arbeit“ getragen war. Die Bestrebung der Gewerkschaft den Umfang der Produktion und die Warenpreise zu bestimmen, ist hingegen als eine Erscheinung ganz neuen Datums. Erst in allerletzte Zeit sehen wir – wiederum nur in England – dahingehende Versuche auftauchen. Dem Charakter und der Tendenz nach sind aber auch diese Bestrebungen jenen ganz gleichwertig. Denn worauf reduziert sich notwendigerweise die aktive Teilnahme der Gewerkschaft an der Bestimmung des Umfangs und der Preise der Warenproduktion? Auf ein Kartell der Arbeiter mit den Unternehmern gegen den Konsumenten, und zwar unter Gebrauch von Zwangsmaßregeln gegen konkurrierende Unternehmer, die den Methoden der regelrechten Unternehmerverbände in nichts nachstehen. Es ist dies im Grunde genommen kein Kampf zwischen Arbeit und Kapital mehr, sondern ein solidarischer Kampf des Kapitals und der Arbeitskraft gegen die konsumierende Gesellschaft. Seinem sozialen Werte nach ist das ein reaktionäres Beginnen, das schon deshalb keine Etappe in dem Emanzipationskampfe des Proletariats bilden kann, weil es vielmehr das gerade Gegenteil von einem Klassenkampf darstellt. Seinem praktischen Werte nach ist das eine Utopie, die sich, wie eine kurze Besinnung dartut, nie auf größere und für den Weltmarkt produzierende Branchen erstrecken kann.
Die Tätigkeit der Gewerkschaften beschränkt sich also in der Hauptsache auf den Lohnkampf und die Verkürzung der Arbeitszeit, d. h. bloß auf die Regulierung der kapitalistischen Ausbeutung je nach den Marktverhältnissen; die Einwirkung auf den Produktionsprozeß bleibt ihnen der Natur der Dinge nach verschlossen. Ja, noch mehr, der ganze Zug der gewerkschaftlichen Entwicklung richtet sich gerade umgekehrt, wie es Konrad Schmidt annimmt, auf die völlige Ablösung des Arbeitsmarktes von jeder unmittelbaren Beziehung zu dem übrigen Warenmarkt. Am bezeichnendsten hierfür ist die Tatsache, daß sogar die Bestrebung, den Arbeitskontrakt wenigstens passiv mit der allgemeinen Produktionslage in unmittelbare Beziehung zu bringen, durch das System der gleitenden Lohnlisten nunmehr von der Entwicklung überholt ist, und daß sich die englischen Trade Unions von ihnen immer mehr abwenden.
Aber auch in den tatsächlichen Schranken ihrer Einwirkung geht die gewerkschaftliche Bewegung, nicht wie es die Theorie der Anpassung des Kapitals voraussetzt, einer unumschränkten Ausdehnung entgegen. Ganz umgekehrt! Faßt man größere Strecken der sozialen Entwicklung ins Auge, so kann man sich der Tatsache nicht verschließen, daß wir im großen und ganzen nicht Zeiten einer siegreichen Machtentfaltung, sondern wachsenden Schwierigkeiten der gewerkschaftlichen Bewegung entgegengehen. Hat die Entwicklung der Industrie ihren Höhepunkt erreicht und beginnt für das Kapital auf dem Weltmarkt der „absteigende Ast“, dann wird der gewerkschaftliche Kampf doppelt schwierig: erstens verschlimmern sich die objektiven Konjunkturen des Marktes für die Arbeitskraft, indem die Nachfrage langsamer, das Angebot aber rascher steigt, als es jetzt der Fall ist, zweitens greift das Kapital selbst, um sich für die Verluste auf dem Weltmarkt zu entschädigen, um so hartnäckiger auf die dem Arbeiter zukommende Portion des Produktes zurück. Ist doch die Reduzierung des Arbeitslohnes eines der wichtigsten Mittel, den Fall der Profitrate aufzuhalten! England bietet uns bereits das Bild des beginnenden zweiten Stadiums in der gewerkschaftlichen Bewegung. Sie reduziert sich dabei notgedrungen immer mehr auf die bloße Verteidigung des bereits Errungenen, und auch diese wird immer schwieriger. Der bezeichnete allgemeine Gang der Dinge ist es, dessen Gegenstück der Aufschwung des politischen und sozialistischen Klassenkampfes sein muß.
Den gleichen Fehler der umgekehrten geschichtlichen Perspektive begeht Konrad Schmidt in bezug auf die Sozialreform, von der er sich verspricht, daß sie „Hand in Hand mit den gewerkschaftlichen Arbeiterkoalitionen der Kapitalistenklasse die Bedingungen, unter denen sie allein Arbeitskräfte verwenden darf, aufoktroyiert“. Im Sinne der so aufgefaßten Sozialreform nennt Bernstein die Fabrikgesetze ein Stück „gesellschaftliche Kontrolle“ und als solche – ein Stück Sozialismus. auch Konrad Schmidt sagt überall, wo er vom staatlichen Arbeiterschutz spricht, „gesellschaftliche Kontrolle“, und hat er so glücklich den Staat in Gesellschaft verwandelt, dann setzt er schon getrost hinzu: „d. h. die aufstrebende Arbeiterklasse“, und durch diese Operation verwandeln sich die harmlosen Arbeiterschutzbestimmungen des deutschen Bundesrates in sozialistische Übergangsmaßregeln des deutschen Proletariats.
Die Mystifikation liegt hier auf der Hand. Der heutige Staat ist eben keine „Gesellschaft“ im Sinne der „aufstrebenden Arbeiterklasse“, sondern Vertreter der kapitalistischen Gesellschaft, d. h. Klassenstaat. Deshalb ist auch die von ihm gehandhabte Sozialreform nicht eine Betätigung der „gesellschaftlichen Kontrolle“, d. h. der Kontrolle der freien arbeitenden Gesellschaft über den eigenen Arbeitsprozeß, sondern eine Kontrolle der Klassenorganisation des Kapitals über den Produktionsprozeß des Kapitals. Darin, d. h. in den Interessen des Kapitals, findet denn auch die Sozialreform ihre natürlichen Schranken. Freilich, Bernstein und Konrad Schmidt sehen auch in dieser Beziehung in der Gegenwart bloß „schwächliche Anfangsstadien“ und versprechen sich von der Zukunft eine ins unendliche steigende Sozialreform zugunsten der Arbeiterklasse. Allein sie begehen dabei den gleichen Fehler wie in der Annahme einer unumschränkten Machtentfaltung der Gewerkschaftsbewegung.
Die Theorie der allmählichen Einführung des Sozialismus durch soziale Reformen setzt als Bedingung, und hier liegt ihr Schwerpunkt, eine bestimmte objektive Entwicklung ebenso des kapitalistischen Eigentums wie des Staates voraus. In bezug auf das erstere geht das Schema der künftigen Entwicklung, wie es Konrad Schmidt voraussetzt, dahin, „den Kapitaleigentümer durch Beschränkung seiner Rechte mehr und mehr in die Rolle eines Verwalters herabzudrücken“. Angesichts der angeblichen Unmöglichkeit der einmaligen plötzlichen Expropriation der Produktionsmittel macht sich Konrad Schmidt eine Theorie der stufenweisen Enteignung zurecht. Hierfür konstruiert er sich als notwendige Voraussetzung eine Zersplitterung des Eigentumsrechts in ein „Obereigentum“, das er der „Gesellschaft“ zuweist und das er immer mehr ausdehnt wissen will, und ein Nutznießrecht, das in den Händen des Kapitalisten immer mehr zur bloßen Verwaltung seines Betriebes zusammenschrumpft. Nun ist diese Konstruktion entweder ein harmloses Wortspiel, bei dem nichts Wichtiges weiter gedacht wurde. Dann bleibt die Theorie der allmählichen Expropriation ohne alle Deckung. Oder es ist ein ernst gemeintes Schema der rechtlichen Entwicklung. Dann ist es aber völlig verkehrt. Die Zersplitterung der im Eigentumsrecht liegenden verschiedenen Befugnisse, zu der Konrad Schmidt für seine „stufenweise Expropriation“ des Kapitals Zuflucht nimmt, ist