Das Haus in der Mango Street. Sandra Cisneros

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Das Haus in der Mango Street - Sandra  Cisneros Gatsby

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das Nötige im Vorbeigehen.

      Als das Foto der jungen Frau, die ich war, aufgenommen wurde, bezeichnete ich mich selbst noch immer als Dichterin, obwohl ich seit der Grundschule Geschichten geschrieben habe. Der Belletristik habe ich mich wieder zugewandt, während ich im Iowa Writers’ Workshop Lyrik studierte. Dichtung, wie sie an der University of Iowa gelehrt wird, ist ein Kartenhaus, ein Ideenturm, aber ich kann eine Idee nur als Geschichte vermitteln.

      Die Frau, die ich auf dem Foto bin, arbeitete neben ihren Gedichten gerade Schritt für Schritt an einer Serie von Textvignetten. Der Titel stand bereits fest: Das Haus in der Mango Street. Fünfzig Seiten hatte ich schon geschrieben, aber ich sah es noch nicht als Roman. Bloß ein Glas voll Knöpfe, genau wie die bestickten Kopfkissenbezüge, die alle nicht zusammenpassten, und die mit Monogrammen versehenen Taschentücher von den Wühltischen bei Goodwill. Ich schrieb diese Textchen und betrachtete sie als »kleine Geschichten«, obwohl ich spürte, dass sie alle miteinander verbunden waren. Ich hatte noch nicht von Erzählzyklen gehört. Ich hatte noch nicht Ermilo Abreu Gómez’ Canek, Elena Poniatowskas Lilus Kikus, Gwendolyn Brooks’ Maud Martha oder Nellie Campobellos My Mother’s Hands gelesen. Das kam später, als ich mehr Zeit und Alleinsein zum Lesen hatte.

      Die Frau, die ich einmal war, schrieb die ersten drei Geschichten von Das Haus in der Mango Street an einem einzigen Wochenende in Iowa. Aber weil ich nicht den Kurs für fiktionales Schreiben belegt hatte, wurden mir die Geschichten nicht für meine Masterarbeit anerkannt. Ich habe nicht widersprochen, mein Professor erinnerte mich zu sehr an meinen Vater. Ich arbeitete nebenbei an diesen Geschichten, zum Trost, wenn ich gerade nicht an Gedichten für die Uni schrieb. Ich zeigte sie meinen Mitstudierenden wie der Dichterin Joy Harjo, die ebenfalls Schwierigkeiten im Lyrikkurs hatte, und dem Schriftsteller Dennis Mathis, der aus einer Kleinstadt in Illinois kam, dessen Taschenbuchbibliothek aber die ganze Welt umfasste.

      Kurz- und Kürzestgeschichten waren damals, in den siebziger Jahren, literarisch en vogue. Dennis erzählte mir von den minimalistischen Handtellergeschichten des japanischen Nobelpreisträgers Kawabata. Wir brieten uns Omelette zum Abendessen und lasen uns gegenseitig García Márquez und Heinrich Böll vor. Wir hatten beide einen Hang für experimentelle Erzähler – alles Männer damals, mit Ausnahme von Grace Paley –, Rebellen wie wir. Dennis würde mein lebenslanger Lektor werden, ein Verbündeter und die Stimme am Telefon, wenn einer von uns beiden den Mut verlor.

      Die junge Frau auf dem Foto schreibt ihr Buch nach dem Vorbild von Borges und ich von Jorge Luis Borges – ein Schriftsteller, den sie seit der Highschool liest. Fragmentarische Geschichten, die wie Hans Christian Andersen, Ovid oder Enzyklopädieeinträge klingen. Sie will Geschichten schreiben, die Grenzen überschreiten, Grenzen zwischen Genres, zwischen gesprochenem und geschriebenem Wort, zwischen anspruchsvoller Literatur und Kindergartenreimen, zwischen New York und dem imaginären Dorf Macondo, zwischen den USA und Mexico. Natürlich möchte sie, dass die von ihr bewunderten Schriftsteller ihre Arbeiten würdigen, aber genauso möchte sie, dass auch Leute, die normalerweise keine Bücher lesen, ihre Geschichten genießen. Sie will kein Buch schreiben, das vom Leser nicht verstanden wird, der sich womöglich noch dafür schämen würde, es nicht zu verstehen.

      Sie findet, Geschichten haben mit Schönheit zu tun. Schönheit, die von allen bewundert werden soll, wie eine Wolkenherde, die am Himmel grast. Sie findet, dass Menschen, die den ganzen Tag arbeiten, um zu überleben, schöne kleine Geschichten verdient haben, weil sie wenig Zeit haben und oft übermüdet sind. Sie hat ein Buch vor Augen, das man auf einer beliebigen Seite aufschlagen kann und das trotzdem Sinn ergibt, auch wenn der Leser nicht weiß, was davor oder danach passiert.

      Sie experimentiert und erschafft einen Text, der so knapp und flexibel ist wie ein Gedicht, sie zerbricht Sätze in Fragmente, sodass der Leser innehalten muss, sodass jeder Satz ihr dient und nicht andersherum, sie verbannt Anführungszeichen, um die Typographie zu straffen und die Seiten so einfach und lesbar zu machen wie möglich. Sodass die Sätze biegsam sind wie Zweige und auf mehr als eine Weise gelesen werden können.

      Manchmal geht die Frau, die ich einst war, am Wochenende aus, um sich mit anderen Schriftstellerinnen und Schriftstellern zu treffen. Manchmal lade ich diese Freunde in meine Wohnung ein, um dort gemeinsam an unseren Texten zu arbeiten. Wir sind Schwarze, Weiße und Latinos. Wir sind Männer, und wir sind Frauen. Was uns verbindet, ist die Überzeugung, dass Kunst unseren Communitys dienen sollte. Gemeinsam veröffentlichen wir eine Anthologie – Emergency Tacos –, denn unsere Arbeitstreffen enden nie vor dem Morgengrauen, und dann versammeln wir uns immer in derselben taquería auf der Belmont Avenue, die rund um die Uhr geöffnet hat, wie eine Multikulti-Version von Hoppers Gemälde Nachtschwärmer. Die Autoren von Emergency Tacos organisieren jeden Monat Kunstveranstaltungen in der Wohnung meines Bruders Keek – Galeria Quique. Wir tun das gänzlich ohne finanzielle Mittel, abgesehen von unserer wertvollen Zeit. Wir tun das, weil die Welt – das Haus, in dem wir leben – in Flammen steht und die Menschen, die wir lieben, zu verbrennen drohen.

      Die junge Frau auf dem Foto steht morgens auf, um zu der Arbeit zu fahren, mit der sie ihre Wohnung in der Paulina Street finanziert. Sie ist Lehrerin an einer Schule in Pilsen, einem Viertel im Süden Chicagos, in dem ihre Mutter früher gewohnt hat, ein mexikanisches Viertel mit niedrigen Mieten, wo viele Familien auf engem Raum wohnen. Weder Vermieter noch die Stadt sehen sich verantwortlich, etwas gegen die Ratten zu unternehmen, gegen den Müll, der zu selten abgeholt wird, gegen morsche Veranden und Wohnungen ohne Feuertreppen, bis ein Unglück geschieht und Menschen sterben. Dann ermittelt sie eine Weile, aber die Probleme bestehen weiter, bis zum nächsten Todesfall, zu den nächsten Ermittlungen, zum nächsten Kampf ums Vergessen.

      Die junge Frau unterrichtet Schüler, die die Highschool geschmissen haben und ihren Abschluss nachholen wollen. Sie lernt, dass deren Lebensumstände allesamt prekärer sind, als sie es sich in ihren kühnsten Schriftstellerinnen-Vorstellungen ausmalen kann. Verglichen mit ihren Schülern hat sie ein komfortables und privilegiertes Leben geführt. Nie hat sie morgens vor der Schule erst ein Kind stillen müssen. Nie hat ihr Vater oder ein Freund sie nachts grün und blau geschlagen. Nie hat sie einen Umweg machen müssen, um einer Gang im Schulflur aus dem Weg zu gehen. Nie haben ihre Eltern sie angefleht, die Schule sausen zu lassen, um stattdessen Geld zu verdienen.

      Wie kann Kunst die Welt verändern? Diese Frage wurde in Iowa nie gestellt. Sollte sie ihren Schülern etwa beibringen, wie man Gedichte schreibt, wenn sie doch lernen mussten, sich selbst zu verteidigen, um nicht verprügelt zu werden? Kann ein Memoir von Malcom X oder ein Roman von García Márquez sie vor täglicher Prügel schützen? Und was ist mit denen, die solche Lernschwierigkeiten haben, dass sie nicht mal ein Kinderbuch lesen, aber eine Geschichte so wunderbar erzählen können, dass sie sich am liebsten Notizen gemacht hätte. Sollte sie das Schreiben aufgeben und etwas Nützliches wie Medizin studieren? Wie kann sie ihren Schülern beibringen, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen? Sie liebt diese Schüler. Was kann sie tun, um ihre Leben zu retten?

      Eins führt zum anderen, und bald ist die junge Frau nicht mehr Lehrerin, sondern Personalreferentin an ihrer früheren Universität, der Loyola University in Rogers Park im Norden Chicagos. Ich habe eine Krankenversicherung. Ich nehme keine Arbeit mehr mit nach Hause. Mein Arbeitstag endet um 17 Uhr. Jetzt habe ich abends frei, um zu schreiben. Ich fühle mich wie eine echte Schriftstellerin.

      An der Universität arbeite ich für ein Programm, das es inzwischen nicht mehr gibt, das Educational Opportunity Program zur Unterstützung »benachteiligter« Schüler. Die Arbeit entspricht meinen Überzeugungen, und ich kann weiterhin meinen ehemaligen Schülern helfen. Aber als meine klügste Schülerin angenommen wird, sie sich einschreibt und kurz darauf, noch im ersten Semester, hinschmeißt, breche ich vor Trauer und Erschöpfung über meinem Schreibtisch zusammen und würde am liebsten selbst alles hinschmeißen.

      Ich schreibe über meine Schüler, weil ich nicht weiß, wohin sonst mit ihren Geschichten. Sie aufzuschreiben bedeutet,

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