Selbstverständlich ist nichts mehr. Hans Bürger
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Kommunikation 2020 – wirklich ein Haltegriff? Oder doch eher nachhechelnde Gewissensberuhigung?
Zeitkrise
Bei allem „Mehr“ bleibt ein Faktor immer gleich. Die Zeit. Sie beschleunigt sich nicht. Sie tut, was sie immer tut. Sie vergeht einfach. Egal, ob wir eine Stunde aus dem Fenster blicken und vorbeiziehende Wolken beobachten oder ob wir in diesen 60 Minuten drei Produkte online erworben, zwanzig Nachrichten auf vier Kommunikationsebenen gecheckt und filmschauend 20 Laufbandminuten hinter uns gebracht haben.
Die Zeit ist weg. Nur. Was haben wir als sinnvoll erlebt? Haben wir überhaupt etwas erlebt?
Der deutsch-koreanische Philosoph Byung-Chul Han spricht von Dyschronie und meint damit ein eher wirres Nebeneinander von Abläufen. „Wenn ich in einem Leben möglichst viele Weltmöglichkeiten umsetzen kann, brauche ich kein Versprechen auf Unsterblichkeit … aber dieses Kalkül ist naiv“5, sagt Byung-Chul Han. Fülle werde mit Erfüllung verwechselt. Schon die griechischen Philosophen haben uns klargemacht: Ohne das Erlebte nicht zu erfahren und ohne das Erfahrene nicht wirklich zu erkennen und zu verstehen, werden wir nicht genießen können. Wenn also all die auf uns einprasselnden Innovationen und Beschleunigungsmechanismen nicht mehr zu verarbeiten sind, setzen Überforderung und Desinteresse ein. Das wiederum führt über kurz oder lang zu innerem Abschalten und der Verweigerung neuer Botschaften und Produkte. Der umworbene Rezipient geht auf „off“. Sinn hat das keinen mehr. Und Unzufriedenheit und Wut wird es schließlich – um nochmals zur Multioptionswelt für Konsumenten zurückzublenden, wenn man sich beim Kauf eines Produktes, bei der Wahl eines Urlaubsziels, bei einem Mietvertrag in der Eile für die aus seiner Sicht dann doch falsche Option entschieden hat. Also wenn der Konsument nicht nur im Angebotswahnsinn aufgegeben, sondern auch noch eine unüberlegte, dann bereuende Entscheidung getroffen hat. Etwa weil die Schönheit der BiN (Bilder im Netz – Abkürzungscopyright beim Autor) jene der Realität am Urlaubsort eine Spur übertroffen oder sich das Hochqualitätsprodukt auf der Homepage nach Lieferung als Nachahmungsmist entpuppt hat.
Aber auch wenn es die für ihn letztlich doch passende Option geworden ist, erlebt der Mensch von heute ein mittel- oder langfristig zum Verbrauch gedachtes Produkt noch als sinnstiftendes Objekt? Wie lange dauert die Freude? Überlegen Sie für sich selbst. Fernseher, iPad, Auto, Fidget Spinner … egal, wie groß oder klein, wie teuer oder billig. Wie lange hält sie?
Vernachlässigung der Ich-Kräfte
Natürlich ist es heute möglich, einfach so dahinzuleben. Keine großen Fragen. Schon gar keine Ratgeber, auch keine Soziologen oder Psychologen. Der Alltag ist hart genug. Doch wenn man in einer stillen Minute einen Menschen befragt, wie es ihm denn wirklich gehe und ob er denn ein halbwegs glückliches Leben führe, kommen meist wenig euphorische Antworten, die sich im Österreichischen dann in etwa so anhören: „Geht schon.“ – „Passt schon irgendwie.“ – „Was soll’s, so ist das Leben.“ – „Einmal so, einmal so.“ – „Eh gut.“ – „Kein Unglück ist genug Glück.“ Und je weiter in Österreich nach Osten gehend, klingt es dann eher so: „Geh bitte, wer ist heutzutage schon glücklich“ bis zu „Was soll diese depperte Frage?“ oder „Was geht dich das an, ob ich glücklich bin, kümmere dich um deinen eigenen Mist“. Meine persönliche Nummer eins wurde von einem Dialektsänger in Wien geboren: „Mia is wurscht.“ (Mir ist das alles egal.)
Irgendwie erstaunlich. Denn was fehlt dem Menschen denn heute in den Wohlstandsgesellschaften? Und damit sind nicht jene Mitglieder in den Wohlstandsgesellschaften gemeint, denen es ohnehin finanziell an allen Ecken und Enden fehlt, die gerade noch mit dem Alltag zurechtkommen und die mit Fug und Recht behaupten könnten, dass sie eigentlich nicht sehr glücklich sein können. Interessanterweise ist die allgemeine Zufriedenheit aber gerade in jenen Bevölkerungsschichten höher, als sie es im obersten Einkommensdrittel der Gesellschaft ist.
Warum geht es Menschen subjektiv nicht so gut, obwohl es ihnen objektiv gut gehen sollte? Oft, weil sie deutlich spüren, dass mehr möglich wäre, mehr als dieses einfache Dahinleben.
Wie könnte mehr möglich sein? Wie könnte dieses Umdenken auch politische, vielleicht auch ökonomische Abläufe beeinflussen?
Ich darf Sie nun zu einer Reise einladen. Zu einer Reise menschlichen Denkens vom Recht auf Faulheit vor einigen tausend Jahren über ein strenges Pflichtbewusstsein, umrahmt nicht selten von schlechtem Gewissen in arbeitsfreien Stunden, und wieder zurück zum Ursprung und der neuerlichen Frage, einige tausend Jahre später: Haben wir nicht auch ein Recht auf mehr Zeit zur Muße, auf Momente des Nachdenkens und mehr Erfüllung statt Fülle?
VORARBEIT
Es war einmal.
Ja, es war einmal tatsächlich auch eine Zeit vor der Arbeit.
Jedenfalls eine Zeit vor dem, was man heute gemeinhin unter dem Begriff Arbeit versteht. Wirklich positiv war der Begriff nie besetzt. Im Lateinischen kommt das Wort Arbeit von arvum, dem Acker, und bezog sich im Wesentlichen auf die harte Feldarbeit. Das lateinische Wort laboro bedeutet neben arbeiten auch sich abmühen, leiden, geplagt werden oder in Sorge sein.
Archäologen datieren den Ursprung der Arbeit mit rund 10.000 Jahren vor Christi Geburt, als die Menschen begannen, sesshaft zu werden und ihre Überlebensmittel selbst herzustellen. Was bereits Arbeit gewesen war. Es folgte die Viehhaltung, und irgendwann erkannten die Menschen, dass sie auch mehr erzeugen konnten, als sie selbst zum Leben brauchten. Mit dem, was von der Nahrungsmittelproduktion „für andere“ übrig geblieben war, konnten Arbeiter dafür, dass sie bei der Produktion mithalfen, entlohnt werden. Hilfehandel sozusagen. Oder ein „Wie du mir, so ich dir“ im positiven Sinne.
In der griechischen Antike war Arbeit verpönt. Man überließ sie Sklaven und Frauen. Wer etwas auf sich hielt und sich das auch leisten konnte, gab sich ganz der Muße, dem Denken, der Philosophie hin. Der Dichter der Antike, Homer, er soll rund 850 vor Christi Geburt gelebt haben, ließ stets den Müßiggang hochleben, Arbeit galt als etwas Negatives. Und für den Schriftsteller Xenophon galt rund 400 Jahre später noch immer: Arbeit verhindere Muße und verdränge die Zeit für soziales Denken und Handeln. Weitere 100 Jahre danach sieht der Philosoph Aristoteles Arbeit als das Gegenteil von Freiheit. Bei den Römern sah die Lage nicht viel anders aus. Marcus Tullius Cicero, der bis 43 vor Christi Geburt lebte, schrieb in seinen „De officiis“ (Vom pflichtgemäßen Handeln): „Eines Freien unwürdig und schmutzig sind ferner die Erwerbsformen aller