Das Schweigen der Familie. Ben Faridi

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Das Schweigen der Familie - Ben Faridi Mord und Nachschlag

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wird die Hautoberfläche stark angegriffen. Wäre er an Land gestorben, könnte man das leicht herausfinden. Möglich ist es aber. Haben Sie einen Anhaltspunkt?« »Die Bilder haben mich an einen früheren Fall erinnert.« »Ich schicke eine Probe in das Labor. Vielleicht lassen sich noch ausreichend Erkenntnisse gewinnen.« »Danke.« Baptista verabschiedete sich und eilte zum Flughafen. Die Beamten musterten ihn unangenehm, weil er durch die Lungenentzündung wieder stark zu schwitzen begonnen hatte. Auf Corvo wollte er gleich einen Arzt aufsuchen. In der kleinen Maschine war es nicht voll. Er setzte sich auf seinen Platz und schlief sofort vor Erschöpfung ein.

      Das Flugzeug landete auf einer winzigen Piste. Fast hatte man Angst, dass die Landebahn nicht ausreichte. Schon von oben sah man, dass Corvo – der Name bedeutet ›Rabe‹ – eine winzige Insel war. Baptista dachte an die vielen Vorurteile von Menschen gegenüber Raben. In der Renaissance wurden sie gerne neben Apollo oder Bacchus als Zeichen der Intelligenz gezeigt. Dann dachte man, sie würden andere Vögel töten und begann sie bis zur Ausrottung zu jagen. Warum nennt man eine Insel so? Das Wort Açores bedeutet ›Habicht‹. Dabei wirken diese Inseln friedlich, wie kaum ein anderer Ort.

      Mittwochabend, 12. Juni

      Die zehn Passagiere stiegen aus und wurden von der halben Insel interessiert willkommen geheißen. Es war früher Abend und man hatte offensichtlich Zeit. Ein vierzigjähriger Mann mit Krawatte und einem sympathischen Gesicht, das von dunklen Haaren eingerahmt war, kam auf Baptista zu. »Bem-vindo in Corvo. Sie müssen Senhor Baptista sein. Ich freue mich, Sie im Namen des Bürgermeisters willkommen zu heißen. Mein Name ist Delgado, Teo Delgado. Aber kommen Sie, ich bringe Sie zu Ihrem Zimmer.« »Sehr erfreut«, hustete Baptista. Sie gingen einige Schritte zu Delgados Wagen, einem einfachen Seat. »Ich hoffe, Ihr Flug war angenehm.« Wieder verfiel Baptista in einen Hustenanfall. Er hatte das Gefühl, kaum noch atmen zu können. »Danke, der Flug war gut. Ich benötige etwas für meine Erkältung. Wo gibt es denn einen Arzt?« Sie fuhren seit drei Minuten. Senhor Delgado hielt an. Baptista dachte, er habe eine falsche Frage gestellt. »Wir sind da«, seufzte Delgado, als wären sie seit Stunden unterwegs. »Einen Arzt gibt es erst übermorgen. Er kommt zweimal die Woche aus Flores. Bis dahin müssen Sie mit Kamillentee vorliebnehmen.« Corvo besaß ein einziges Hotel, das Casa de Hóspedes. Senhor Delgado – Dezernent für außergewöhnliche Angelegenheiten – wie er sich vorstellte, brachte ihn jedoch zu María Lancha, die ein Haus direkt neben dem Rathaus besaß. Sie stiegen aus. Delgado klopfte an die Tür und trat dann ein. Er rief etwas in das Haus hinein. Die Treppe knarrte und eine alte Dame, Senhora Lancha, stand vor ihnen. Sie begrüßte Delgado überschwänglich und beäugte Baptista misstrauisch. Schließlich entschied sie sich, ihm die Hand zu geben.

      »Sie sind also der Polizist?« Senhora Lancha machte keinen Hehl aus ihrem Misstrauen. »Der arme Francisco. Nun soll ihm Gerechtigkeit widerfahren.« »Baptista. Sehr erfreut.« »Ihr Zimmer ist im ersten Stock.« Die beiden Männer folgten ihr die knarrenden Stufen hinauf. In einem sehr einfachen, aber sympathischen Zimmer stellte Baptista seinen Koffer ab. Er fühlte sich schrecklich und plante sich ins Bett zu legen. »Kommen Sie doch gleich mit. Meine Frau hat uns etwas zubereitet. Dabei können wir auch für morgen das Wichtigste besprechen.« »Ich fühle mich schrecklich«, meinte Baptista. Die Gesichter von Delgado und Lancha klappten schlagartig nach unten. Er hatte wohl eine ungehörige Beleidigung ausgesprochen. Er räusperte sich kurz. »Geben Sie mir fünf Minuten. Ich komme dann runter.« Die Gesichter der beiden hellten sich auf. »Sehr schön.« Die Tür fiel ins Schloss. Baptista fiel auf das Bett. Ihm wurde schwarz vor Augen. Er hatte fiebrigen Schweiß auf der Stirn. Sein Brustkorb war ein einziger Schmerz. Er kramte einige Aspirin heraus und nahm zwei auf einmal. Durch das Fenster hörte er die Stimmen von Delgado, Lancha und zwei weiteren Personen. »... nicht richtig, dass ein Fremder hier rumwühlt.« »... unser Geheimnis ...« »Die interessiert doch gar nicht, was mit uns geschieht. Am besten reist er schnell wieder ab.« »... endlich hat es den Richtigen getroffen ...« Baptista ging vorsichtig ans Fenster und versuchte zu erkennen, mit wem Delgado und Lancha redeten. Das kleine Fenster ließen jedoch keinen Blick auf das Grüppchen zu. Das kann ja heiter werden, murmelte Baptista in seinen fiebrigen Kopf hinein. Rasch wechselte er das Hemd und ging nach unten. Sobald die Treppen knarrten, verstummten die Stimmen. Delgado saß scheinbar wartend in seinem Auto. Senhora Lancha zupfte alte Blumenblätter.

      »Steigen Sie ein. Das Essen wird Sie wieder aufpäppeln«, rief ihm Delgado zu. Du falscher Hund, dachte Baptista. »Gerne. Danke.« Er stieg ein und sie fuhren um zwei Straßenecken herum in die Rua da Fonte, wo sie vor einem einfachen Haus ausstiegen. An der Fassade blätterte Farbe ab und der Vorgarten war vollkommen ungepflegt. Als sie eintraten, sah Baptista jedoch sofort, dass sich der schlechte Eindruck lediglich auf die Fassade bezog. Der Innenraum war hervorragend eingerichtet und hatte beinahe etwas Luxuriöses. Senhora Delgado eilte ihm aus der Küche entgegen. Sie war umgeben von einem appetitanregenden Duft. »Sehr erfreut. Setzen Sie sich doch. Mein Mann serviert Ihnen einen kleinen Aperitif.« Ein scharfer Seitenblick zu ihrem Mann zeigte deutlich, wer in diesem Haus die Entscheidungen traf. Baptista konnte es nicht vermeiden, einen Blick auf das runde Hinterteil von Senhora Delgado zu werfen. Wie die meisten Frauen auf den Azoren war sie üppig und strahlte dadurch eine große Lebensfreude aus. Trotz seines fiebrigen Zustandes fühlte Baptista die Anziehungskraft, die Senhora Delgado auf ihn ausübte.

      »Was möchten Sie, Senhor Baptista? Einen Maracujalikör?« Baptista wollte eigentlich nichts Alkoholisches. Doch als er den erwartungsvollen Blick von Delgado sah, stimmte er zu. »Man hat mir erzählt, dass es auf Corvo noch nie einen Mord gegeben hat. Stimmt das?« »Noch nie. Ich weiß nicht, ob Sie sich die Bestürzung hier überhaupt vorstellen können. Hier kennt jeder den anderen. Etwas mehr als dreihundert Personen leben hier. Wir stammen alle von zehn Familien ab. Durch Heirat sind die meisten miteinander verwandt. Auf dieser Insel gibt es noch nicht einmal Schlösser an den Türen.« »Das ist mir schon aufgefallen. Ich dachte aber, das sei eine Ausnahme.«

      »Nein, nein. Niemand schließt seine Tür ab. Wozu auch? Warum sollte ich meiner eigenen Familie etwas stehlen. Hier müssen alle zusammenhalten. Wir sind eine kleine Herde auf einem brodelnden Vulkan. Gott schütze uns.«

      »Normalerweise arbeite ich in Berlin und Brüssel, wie sie vielleicht wissen. Dort geschehen in jedem Stadtviertel jährlich dutzende Morde. Sie leben hier im Paradies.« Dann verfiel Baptista in einen Hustenanfall. Er sprang auf und suchte im Bad, das er zum Glück gleich fand, einen Moment Ruhe. Er schüttete sich Wasser ins Gesicht und stand auf seinen zittrigen Beinen eine Weile ruhig da. Wie soll ich das bis übermorgen schaffen, dachte er. »Alles in Ordnung?«, fragte die Senhora und klopfte leise an die Tür. »Ja. Bin gleich soweit.« Offensichtlich war er schon einige Minuten im Bad gewesen. Er riss sich zusammen und ging wieder ins Wohnzimmer. Senhora Delgado blickte ihn mit einem besorgten, warmen Blick aus ihren großen Augen an. Jao Baptista verschwand in diesem Blick, wurde aber jäh wieder herausgerissen, als Senhor Delgado einen Salat mit grünen Tomaten und einen duftenden Eintopf aus der Küche hereintrug. »Seit ich aus Berlin fort bin, hat mich eine elende Erkältung gepackt«, erklärte Baptista sein Verbleiben im Bad. »Da ist der Eintopf genau das Richtige. Aber zuvor nehmen Sie doch etwas Salat.«

      Baptista nahm sich von den grünen Tomaten. Sie sahen nicht besonders schön aus. Und die Senhora hatte sich auch keine Mühe gegeben, die Tomaten irgendwie anzurichten. Lieblos, ging ihm durch den Kopf. Zwischen den Tomatenstücken fand er eingelegten Tintenfisch. Als er jedoch den ersten Bissen im Mund hatte, erfüllte ein wunderbares Aroma seinen Gaumen. Gartenfrisch und mit einer nussigen Note betörte der Salada de Polvo seinen Geschmack. Abgerundet durch einen Schluck Rotwein hätte er in diesem Moment sich nichts vorstellen können, das er lieber hätte essen mögen.

      Danach erweckte der Eintopf bei Baptista einen vergleichbaren Eindruck. Farbe und Konsistenz waren beinahe unappetitlich. Nichts, das man einem Gast vorsetzen würde. Der Geschmack zarter Möhren und Zwiebeln, von deftigem Kohl, aromatischen Kartoffeln und Speck, bestreut mit frischen Kräutern, ergab jedoch einen unnachahmlichen Geschmack. Baptista dachte, dass das Essen ein wenig wie die Häuser auf Corvo sei: verfallene

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