Der Verschollene. Textausgabe mit Kommentar und Materialien. Franz Kafka
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Verhältnismäßig lange dauerte es, ehe sich der Onkel entschloss, Karl auch nur einen kleinen Einblick in sein Geschäft zu erlauben, trotzdem Karl öfters darum ersucht hatte. Es war eine Art Kommissions- und Speditionsgeschäftes, wie sie, soweit sich Karl erinnern konnte, in Europa vielleicht gar nicht zu finden war. Das Geschäft bestand nämlich in einem Zwischenhandel, der aber die Waren nicht etwa von den Produzenten zu den Konsumenten oder vielleicht zu den Händlern vermittelte, sondern welcher die Vermittlung aller Waren und Urprodukte für die großen Fabrikskartelle und zwischen ihnen besorgte. Es war daher ein Geschäft, welches in einem Käufe, Lagerungen, Transporte und Verkäufe riesenhaften Umfangs umfasste und ganz genaue unaufhörliche telefonische und telegraphische Verbindungen mit den Klienten unterhalten musste. Der Saal der Telegraphen war nicht kleiner, sondern größer als das Telegraphenamt der Vaterstadt, durch das Karl einmal an der Hand eines dort bekannten Mitschülers gegangen war. Im Saal der Telefone gingen wohin man schaute die Türen der Telefonzellen auf und zu und das Läuten war sinnverwirrend. Der Onkel öffnete die nächste dieser Türen und man sah dort im sprühenden elektrischen Licht einen Angestellten gleichgültig gegen jedes Geräusch der Türe, den Kopf eingespannt in ein Stahlband, das ihm die Hörmuscheln an die Ohren drückte. Der rechte Arm lag auf einem Tischchen, als wäre er besonders schwer und nur die Finger, welche den Bleistift hielten, zuckten unmenschlich gleichmäßig und rasch. In den Worten, die er in den Sprechtrichter sagte, war er sehr sparsam und oft sah man sogar, dass er vielleicht gegen den Sprecher etwas einzuwenden hatte, ihn etwas genauer fragen wollte, aber gewisse Worte, die er hörte zwangen ihn, ehe er seine Absicht ausführen konnte, die Augen zu senken und zu schreiben. Er musste auch nicht reden, wie der Onkel Karl leise erklärte, [48]denn die gleichen Meldungen, wie sie dieser Mann aufnahm, wurden noch von zwei andern Angestellten gleichzeitig aufgenommen und dann verglichen, so dass Irrtümer möglichst ausgeschlossen waren. In dem gleichen Augenblick als der Onkel und Karl aus der Tür getreten waren, schlüpfte ein Praktikant hinein und kam mit dem inzwischen beschriebenen Papier heraus. Mitten durch den Saal war ein beständiger Verkehr von hin und her gejagten Leuten. Keiner grüßte, das Grüßen war abgeschafft, jeder schloss sich den Schritten des ihm Vorhergehenden an und sah auf den Boden auf dem er möglichst rasch vorwärtskommen wollte oder fing mit den Blicken wohl nur einzelne Worte oder Zahlen von Papieren ab, die er in der Hand hielt und die bei seinem Laufschritt flatterten.
»Du hast es wirklich weit gebracht«, sagte Karl einmal auf einem dieser Gänge durch den Betrieb, auf dessen Durchsicht man viele Tage verwenden musste, selbst wenn man jede Abteilung gerade nur gesehen haben wollte.
»Und alles habe ich vor dreißig Jahren selbst eingerichtet, musst du wissen. Ich hatte damals im Hafenviertel ein kleines Geschäft und wenn dort im Tag fünf Kisten abgeladen waren, so war es viel und ich ging aufgeblasen nach Hause. Heute habe ich die drittgrößten Lagerhäuser im Hafen und jener Laden ist das Esszimmer und die Gerätkammer der fünfundsechzigsten Gruppe meiner Packträger.«
»Das grenzt ja ans Wunderbare«, sagte Karl.
»Alle Entwicklungen gehn hier so schnell vor sich«, sagte der Onkel das Gespräch abbrechend.
Eines Tages kam der Onkel knapp vor der Zeit des Essens, das Karl wie gewöhnlich allein einzunehmen gedachte und forderte ihn auf, sich gleich schwarz anzuziehn und mit ihm zum Essen zu kommen, an welchem zwei Geschäftsfreunde teilnehmen würden. Während Karl sich im Nebenzimmer umkleidete, setzte sich der Onkel zum Schreibtisch und sah die gerade beendete Englischaufgabe durch, schlug mit der Hand auf den Tisch und rief laut: »Wirklich ausgezeichnet!« Zweifellos gelang das Anziehen besser, als Karl [49]dieses Lob hörte, aber er war auch wirklich seines Englischen schon ziemlich sicher.
Im Speisezimmer des Onkels, das er vom ersten Abend seiner Ankunft noch in Erinnerung hatte, erhoben sich zwei große dicke Herren zur Begrüßung, ein gewisser Green der eine, ein gewisser Pollunder der zweite, wie sich während des Tischgespräches herausstellte. Der Onkel pflegte nämlich kaum ein flüchtiges Wort über irgendwelche Bekannten auszusprechen und überließ es immer Karl durch eigene Beobachtung das Notwendige oder Interessante herauszufinden. Nachdem während des eigentlichen Essens nur intime geschäftliche Angelegenheiten besprochen worden waren, was für Karl eine gute Lektion hinsichtlich kaufmännischer Ausdrücke bedeutete, und man Karl still mit seinem Essen sich hatte beschäftigen lassen, als sei er ein Kind, das sich vor allem ordentlich sattessen müsse, beugte sich Herr Green zu Karl hin und fragte in dem unverkennbaren Bestreben ein möglichst deutliches Englisch zu sprechen, im Allgemeinen nach Karls ersten amerikanischen Eindrücken. Karl antwortete unter einer Sterbensstille ringsherum mit einigen Seitenblicken auf den Onkel ziemlich ausführlich und suchte sich zum Dank durch eine etwas New-Yorkisch gefärbte Redeweise angenehm zu machen. Bei einem Ausdruck lachten sogar alle drei Herren durcheinander und Karl fürchtete schon einen groben Fehler gemacht zu haben, jedoch nein, er hatte wie ihm Herr Pollunder erklärte, sogar etwas sehr Gelungenes gesagt. Dieser Herr Pollunder schien überhaupt an Karl ein besonderes Gefallen zu finden und während der Onkel und Herr Green wieder zu den geschäftlichen Besprechungen zurückkehrten, ließ Herr Pollunder Karl seinen Sessel nahe zu sich hin schieben, fragte ihn zuerst vielerlei über seinen Namen, seine Herkunft und seine Reise aus, bis er dann schließlich um Karl wieder ausruhn zu lassen, lachend, hustend und eilig selbst von sich und seiner Tochter erzählte, mit der er auf einem kleinen Landgut in der Nähe von New York wohnte, wo er aber allerdings nur die Abende verbringen konnte, denn er war [50]Bankier und sein Beruf hielt ihn in New York den ganzen Tag. Karl wurde auch gleich herzlichst eingeladen, auf dieses Landgut herauszukommen, ein so frischgebackener Amerikaner wie Karl habe ja auch sicher das Bedürfnis sich von New York manchmal zu erholen. Karl bat den Onkel sofort um die Erlaubnis, diese Einladung annehmen zu dürfen und der Onkel gab auch scheinbar freudig diese Erlaubnis, ohne aber ein bestimmtes Datum zu nennen oder auch nur in Erwägung ziehen zu lassen, wie es Karl und Herr Pollunder erwartet hatten.
Aber schon am nächsten Tag wurde Karl in ein Büro des Onkels beordert – der Onkel hatte zehn verschiedene Büros allein in diesem Hause – wo er den Onkel und Herrn Pollunder beide ziemlich einsilbig in den Fauteuils liegend antraf. »Herr Pollunder«, sagte der Onkel, er war in der Abenddämmerung des Zimmers kaum zu erkennen, »Herr Pollunder ist gekommen, um dich auf sein Landgut mitzunehmen, wie wir es gestern besprochen haben.« »Ich wusste nicht dass es schon heute sein sollte«, antwortete Karl, »sonst wäre ich schon vorbereitet.« »Wenn du nicht vorbereitet bist, dann verschieben wir vielleicht den Besuch besser für nächstens«, meinte der Onkel. »Was für Vorbereitungen!« rief Herr Pollunder. »Ein junger Mann ist immer vorbereitet.« »Es ist nicht seinetwegen«, sagte der Onkel zu seinem Gaste gewendet, »aber er müsste immerhin noch in sein Zimmer hinaufgehn und Sie wären aufgehalten.« »Es ist auch dazu reichlich Zeit«, sagte Herr Pollunder, »ich habe auch eine Verzögerung vorbedacht und früher Geschäftsschluss gemacht.« »Du siehst«, sagte der Onkel, »was für Unannehmlichkeiten dein Besuch schon jetzt veranlasst.« »Es tut mir leid«, sagte Karl, »aber ich werde gleich wieder da sein«, und wollte schon wegspringen. »Übereilen Sie sich nicht«, sagte Herr Pollunder. »Sie machen mir nicht die geringsten Unannehmlichkeiten, dagegen macht mir Ihr Besuch eine reine Freude.« »Du versäumst morgen deine Reitstunde, hast du sie schon abgesagt?« »Nein«, sagte