Die Wiedergewinnung des Heilens. Volker Fintelmann
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Die Medizingeräteindustrie gehört zu den Wirtschaftszweigen, die extrem am kranken Menschen verdienen. In Hamburg hat man errechnet, dass eine überschaubare Zahl von Computer-Tomografen ausreichend wäre, um die reale Zahl notwendiger Untersuchungen zu bewerkstelligen. Es waren jedoch zehnmal so viele Apparate aufgestellt. Auch ständig erhöhte Sicherheitsvorschriften steigern Umsätze. So mussten wir in unserem Krankenhaus über hundert noch relativ neue sogenannte Infusoren austauschen, weil sie ganz neu geschaffenen Sicherheitsvorschriften nicht mehr entsprachen. Sie hatten bis zu dem Zeitpunkt des Austausches immer tadel los funktioniert, ohne dass Sicherheitsprobleme auf getaucht waren. Das kostete viel Geld, das im Budget nicht vorgesehen war. Und wir durften die einwandfrei funktionierenden Geräte auch nicht ärmeren Ländern schenken, sie wurden eingezogen und vernichtet. Schließlich wollte man ja auch in diese Länder seine Waren verkaufen, wenn vielleicht auch zu einem niedrigeren Preis. Denn das ist auch so ein Phänomen: Das gleiche Arzneimittel kostet in verschiedenen Ländern unterschiedlich viel. In Deutschland z.B. können Medikamente hochpreisig verkauft werden. Sogenannte Reimporte wurden gesetzlich untersagt.
Die hohen Entwicklungskosten für ein neues Arzneimittel werden auf den Preis bei Markteinführung umgelegt. Das sind dann „innovative“ Arzneimittel, die patentrechtlich geschützt ohne Konkurrenz sind und von uns allen über die Krankenkassenbeiträge finanziert werden. Dabei steht überhaupt nicht fest, ob alle diese Arzneimittel eine Verbesserung in der Behandlung einer bestimmten Krankheit erbringen. Vorausgehende Untersuchungen und Studien haben Hinweise dafür ergeben. Ob sich das jedoch bei nun Tausenden von Kunden („Patienten“) bestätigt, wird erst in der breiten Anwendung erprobt, die nächsten Jahre werden es zeigen. Schlimmstenfalls müssen sie wegen schwerer Nebenwirkungen sogar wieder vom Markt genommen werden, möglichst jedoch erst, wenn sie die Entwicklungskosten eingespielt haben.
Arzneimittelhersteller der Komplementärmedizin haben praktisch nie die Geldmittel, um neue Arzneimittel z.B. der Phytotherapie zu entwickeln, was noch verstärkt wurde, als sie aus der Erstattungspflicht der Krankenkassen 2004 ausgeschlossen wurden. So entstanden Nahrungsergänzungsmittel, die in Wirklichkeit als Arzneimittel gedacht sind, die aber den strengen Kriterien des Arzneimittelgesetzes nicht unterworfen wurden, z.B. der erwiesenen Wirksamkeit und Unbedenklichkeit.
Ein ganz anderes Phänomen ist das der Schädigung von Menschen durch die Medizin. Unwidersprochen werden Zahlen veröffentlicht, dass z.B. in den USA jährlich 150 000 Menschen auf Grund medizinischer Interventionen sterben. Hauptursache sind Krankenhausinfektionen, unerwünschte Arzneimittelwirkungen oder nicht bedachte Interaktionen mehrerer gleichzeitig und vielleicht von verschiedenen Ärzten, die nichts voneinander wussten, verordneter Medikamente. Und natürlich gehören auch Kunstfehler der Ärzte und anderer medizinischer Berufe dazu. Für Deutschland gibt es keine exakt ermittelten Vergleichszahlen, man geht von etwa 40 000 Todesfällen aus. Und das wird als unvermeidbar oder fast selbstverständlich hingenommen, kein Aufschrei erfolgt, kein Entsetzen. Geschähe so etwas im politischen Raum, würde wohl von Völkermord gesprochen. Und das Entsetzliche daran ist, dass sich solche Zahlen jährlich wiederholen. Das Ganze geht nur weil als common sense offenbar gilt, dass die Medizin eben nicht nur nutzt, sondern auch schadet. Deshalb musste das „Nil Nocere“, dass der Arzt dem Kranken nicht Schaden zufügen dürfe, mit dem Hippokratischen Eid verschwinden. Die Medizin macht sich nicht mehr dafür verantwortlich, und der betroffene Mensch hat eben Pech gehabt, so ist die Wirklichkeit. Ich halte das für zutiefst unethisch.
Ein letzter Blick noch auf die Krankenversicherungen. Die sogenannten gesetzlichen Krankenkassen (GKV) wurden in der Regierungszeit von Bismarck gegründet, um den Ärmsten der Armen auch eine Krankenbehandlung zu sichern, die bis dahin Arzt oder Spital nicht bezahlen konnten. Manche wurden durch Armenärzte aufgefangen, die diese Arbeit freiwillig und oft ohne Bezahlung leisteten. Die Reichsversicherungsordnung wurde als Solidarleistung der Gesellschaft gesehen, vor allem die Arbeitgeber mussten sich an den Beiträgen beteiligen, denn viel Krankheit und Elend entstand auch durch die Arbeitsbedingungen. Man denke nur beispielhaft an die Kohlebergwerksarbeiter und ihre Staublungen. Mehr und mehr wurde die GKV eine Zwangsversicherung, in die alle bis auf einen kleinen Anteil solcher Bürger einzahlen mussten, die sehr hohe Einkünfte hatten. Bis heute wird eine „Solidargemeinschaft“ beschworen, die längst nicht mehr existiert. Stattdessen ist eine Selbstbedienungsmentalität entstanden. Der Versicherte sagt etwa: „Ich muss doch wenigstens soviel wieder herausholen wie ich eingezahlt habe“, die Ärzte und andere medizinische Berufe feilschen um höhere Vergütungen, die Versicherungsgesellschaften bauen große Paläste, die Vorstände verdienen Jahresgehälter, die meist höher als das unserer Bundeskanzlerin sind. Und nirgendwo entsteht eine gemeinsame Verantwortung, mit dem Geld aller sorgsam umzugehen und auch nur zu fragen, was der Bürger eigentlich von diesem „seinen“ Geld erwartet. Über 70 Prozent aller Deutschen wünschen sich z.B. die Behandlung mit komplementärer Medizin, deren Arzneimitteln, deren besonderen Angeboten wie Kunsttherapien, Physiotherapien, besonderen Massagen oder modernen Pflegetherapien. Darauf wird jedoch überhaupt nicht eingegangen. Stattdessen hat man fast alle Arzneimittel der Komplementärmedizin aus der Erstattungsfähigkeit der GKV ausgeschlossen. Menschen, die solche Arzneimittel für sich wollen, müssen sie aus der eigenen Tasche bezahlen, oft mehrere hundert Euro im Monat. Und wenn das Geld, mit dem in den angesprochenen Bereichen verschwenderisch umgegangen wird, nicht mehr reicht, werden eben die Beiträge erhöht, und falls das wegen bevorstehender Wahlen nicht opportun ist, werden Leistungen ausgegliedert, Selbstbeteiligungen kreiert oder Kosten „gedeckelt“ (z.B. Arzneimittelkosten). Auch in dem gesamten System der GKV fehlt jegliche Art ethischer Einflussnahme, jeder sucht für sich einen größtmöglichen Anteil aus dem Gesamttopf herauszunehmen, die Haie viel, die kleinen Fische weniger (was in ihrer Masse aber noch mehr bedeutet).
Längst hätte entdeckt werden können, dass eine Gesellschaft, die sich auf eine freie Marktwirtschaft stützt, völlig andere Formen einer Krankenversicherung braucht, eher eine Haftpflicht- (siehe Kraftfahrzeugversicherungen) als eine überholte Solidaritätsversicherung. Denn eine Gesellschaft der Solidarität im Allgemeinen sind wir nicht! Wir denken nicht nach dem christlichen Motiv „Was ihr einem meiner geringsten Brüder angetan habt, das habt ihr mir getan“ (Matth.2,40). Und vor allem handeln wir nicht danach.
Änderungen tun not
Schauen wir nun auf die Aufgabe, im Namen einer christlichen Medizin die geschilderten Verhältnisse wieder in eine ethisch-moralische Haltung einzubetten und sie damit neu zu gestalten, dann wird eine erste grundsätzliche Notwendigkeit ganz deutlich: Die Veränderungen müssen von Einzelnen ausgehen, von jedem von uns! Das grund-christliche Motiv ist die Nächstenliebe, und aus ihr kann ich eine neue Medizin entwickeln. Und das heißt an erster Stelle Selbsterziehung, und davor noch Selbsterkenntnis. Jeder müsste sich fragen, inwieweit er durch sein Verhalten an der Misere mitgewirkt hat. Habe auch ich als Arzt Leistungen manipuliert, mir ein Arzneimittel besorgt, das ich brauchte, im Austausch mit einem, das auf dem Rezept stand, das ich aber nicht wollte? Oder als Patient: Habe ich mich krankgemeldet, obwohl ich hätte arbeiten können?
Die Zulieferer der Medizin, an erster Stelle die Arzneimittelhersteller, müssen sozialisiert werden, womit ich meine: Ihnen muss klar werden, dass ihr Platz in der Gesellschaft ein dienender ist, dass sie im Dienste des krank gewordenen Menschen arbeiten müssten, ihn nicht als Kunden missverstehen, durch den der Gewinn des Unternehmens maximiert werden kann. Die Gewinne der Hersteller müssten Stiftungen zufließen, durch die wiederum medizinische Forschung gefördert werden kann. Es müssten Präventionsprogramme finanziert werden, um sich von einem Motto für das 21. Jahrhundert leiten zu lassen, das ich so formulieren möchte: „Es muss immer wichtiger werden, Gesundheit zu erhalten, als Krankheiten zu behandeln“. Es muss eine präventive Medizin ausgearbeitet werden, die diesen Namen verdient, die sich nicht in Impfungen und Vorsorgeuntersuchungen erschöpft, sondern mit der Gesundheitserziehung schon in der Kindheit beginnt. Welche die Arbeitswelt so gestaltet, dass nicht immer mehr Menschen wegen „psychischer Ursachen“ (deren