Hände weg!?. Joachim Kügler

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Hände weg!? - Joachim Kügler

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an die Zukunft. Da der kanonische Text die Identität der Gemeinschaft begründet, muss er stets auslegend aktualisiert werden. Wer die Auslegung beherrscht, kontrolliert die kollektive Identität und damit das Denken und Handeln der Gruppe. Kanonische Texte sind deshalb ein Ort der Macht. Diesen Ort zu verlieren heißt die Macht zu verlieren.

      Das gilt auch für die Bibel als Kanon. Deswegen hat die Kirche lange versucht, das Lesen der Bibel den priesterlichen Experten zu reservieren. Wir können uns das heute, wo doch das Bibellesen kirchlich gefördert wird, nicht mehr vorstellen, aber im Mittelalter wurde das Bibellesen sogar verboten. Laienbewegungen, die sich bemühten, mit Hilfe von Übersetzungen in die Volkssprache die biblischen Texte auch Laien zugänglich zu machen, wurden verketzert und verfolgt.

      Ein besonders krasses Beispiel sind die Waldenser, die im 12. Jh. von „Petrus“ Valdes, einem reichen Bürger von Lyon, gegründet wurden. Valdes ließ sich die Bibel in die provenzalische Volkssprache übersetzen und entschied sich für ein apostelgleiches Leben als armer Wanderprediger. Während sein Projekt zunächst höchste kirchliche Zustimmung fand, geriet er später in ernste Konflikte mit seinem Bischof und als er sich diesem nicht unterordnete und seinen Widerstand auch noch mit einem Bibelzitat („Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen“, Apostelgeschichte 5,29) begründete, wurde er mitsamt seiner Gruppe exkommuniziert und gnadenlos verfolgt.5

      Die Klerikerkirche sah hier und in ähnlichen Fällen in der Gefährdung ihres exklusiven Zugriffs auf die Offenbarungstexte auch eine Gefährdung ihrer Macht. Und das mit Recht! Man wusste ja, wie viel Deutungsarbeit notwendig war, um die gewaltige zeitliche und kulturelle Distanz zwischen dem alten Text und der gegenwärtigen Theorie und Praxis der Kirche zu überwinden. Ungeheuerliches konnte geschehen, wenn jemand den puren Text unvermittelt mit der nackten Realität der zeitgenössischen Kirche konfrontierte und damit die göttliche Autorität der Offenbarung gegen die Kirche, die Hüterin dieser Offenbarung, wendete!

      Die mittelalterliche Armutsfrömmigkeit ist ein Beispiel für die Erschütterungen, die eine Konfrontation der kirchlichen Wirklichkeit mit dem biblischen Text auslösen konnte: Ist der Kontrast zwischen dem armen Jesus und der reichen Kirche nicht ein Skandal? Wie kann der Papst „Heiliger Vater“ genannt werden, wenn doch Jesus generell verbietet, einen der Jünger auch nur „Vater“ zu nennen? Wie kann die Kirche zu Kreuzzügen aufrufen, wenn Jesus doch zur Gewaltlosigkeit mahnt? …

      Manche dieser Fragen haben nichts von ihrer Brisanz verloren und treffen noch heute wunde Punkte der christlichen Praxis. Trotzdem bin ich der Meinung, dass es bei der kirchlichen Abwehr einer direkten, wörtlichen Lektüre der Bibel nicht nur um Machtegoismus ging, sondern durchaus auch um die berechtigte Frage, ob ein solch unvermitteltes Bibellesen zum Guten führt. Die Gefahr einer biblizistischen – wir würden heute sagen „fundamentalistischen“ – Lesart scheint dann später auch Luther gespürt zu haben: Einerseits holte er mit seiner Übersetzung die Bibel aus ihrem Latein-Ghetto und schuf für alle, die lesen konnten, einen Zugang zum Bibellesen. Andererseits aber betonte er die Bedeutung des theologisch gebildeten Predigers, der der Gemeinde die Grundperspektiven des Lesens an die Hand gibt.

      Die Frage ist freilich, wie man in den christlichen Kirchen ein Gegengewicht zum fundamentalistischen Bibellesen organisieren kann, ohne die „normalen“ Kirchenmitglieder zu entmündigen. Dieses Problem scheint mir in meiner eigenen Kirche noch nicht richtig gelöst. Aus der Perspektive einer zentralistischen Kirchenkonzeption, wie sie in der katholischen Kirche bis heute vorherrscht, haben zwar alle Glieder der Kirche das Recht, die Bibel zu lesen, was aber das Gelesene für Leben und Lehre der Kirche bedeutet, entscheidet allein das Lehramt, in letzter Konsequenz der Papst.6

      Wenn ich die streng hierarchische Verfassung der Kirche annehme und die Definition dessen, was christlich und katholisch ist, letztlich nur der römischen Zentrale zugestehe, wenn ich also akzeptiere, dass ich mit der Mehrheit der Glaubenden von der Identitätsbildung der eigenen Gruppe ausgeschlossen bin, dann sind biblische Texte als kanonische Texte auch nur für das römische Lehramt relevant, dann brauche ich mich auch nicht für die kanonischen Texte interessieren, mit denen diese Identität gebildet wird.

      Die Bibel ist in dieser Sichtweise also nichts für Laien im wissenschaftlichen Sinn und nichts für Laien im kirchlichen Sinn. Allen, die wollen, dass Theologie und Kirche so bleiben, wie sie sind, sei deshalb vom Bibellesen abgeraten, weil es für sie ohnehin überflüssig ist.

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