Mit anderen Augen. Peter Brandt L.
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Zwölfeinhalb Jahre später erwischte es ihn tatsächlich. Er stand kurz vor seinem 65. Geburtstag, den die Partei 1978 mit einer Riesenveranstaltung in der Dortmunder Westfalen-Halle unter Einbeziehung weltbekannter Musiker feiern wollte. Offenbar während einer Reise nach New York erlitt Vater einen sogenannten »stillen«, aber beträchtlichen Herzinfarkt und nach der Rückkehr in Bonn einen kleineren zweiten. Dem Krankenhausaufenthalt folgte ein mehrwöchiger Reha-Aufenthalt im südfranzösischen Hyères. Im dortigen Sanatorium wurde er nach allen Regeln der ärztlichen Kunst wieder in Form gebracht, soweit das möglich war. Vater war von den Bemühungen der Ärzte, von den wohnlichen wie kulinarischen Umständen seiner Kur sehr angetan und hatte das Gefühl, gesünder nach Hause zu fahren, als er seit etlichen Jahren gewesen war. Bislang bewegte er sich wenig, rauchte Kette und sprach stark dem Alkohol zu, auch wenn sein Konsum nie völlig aus dem Ruder lief, dazu der unvermeidliche Stress und die vielen Fernreisen mit Klima- und Zeitzonenwechseln – das alles musste er unter dem strengen, doch wohltuenden Einfluss seiner neuen Lebenspartnerin Brigitte Seebacher nun ändern. In den folgenden Jahren konnte man beobachten, wie er auflebte. Die Fotos vom Wochenendeinkauf in Unkel waren keine Show, jedenfalls nicht in erster Linie. Er schien wieder Gefallen am normalen Leben zu finden und ließ sich beim Kochen bereitwillig für die Hilfsarbeiten einsetzen.
Zum 65. Geburtstag hatte ich ihm eine Zeichnung des Malers Michael Sowa geschenkt, der damals noch nicht so bekannt war. Sowa hatte sie nach meinen Wünschen zu einem Freundschaftspreis angefertigt. Zum 70. Geburtstag, am 18. Dezember 1983, konnten meine Frau Gabriele und ich ihm unsere knapp zwei Monate alte Tochter Karoline Luise präsentieren, ein Fressen für die Fotoreporter und unverkennbar eine Freude für den Großvater. Kontinuierlich bemühte ich mich darum, dass sich »Opa Willy« und Karoline immer wieder in Berlin sahen. Ich erlebte ihn dabei zugewandt, lieb und keineswegs unbeholfen. Das nahm wohl auch meine Tochter so wahr, die nur nicht verstehen konnte, warum er manchmal plötzlich so schnell wieder weg musste. Als Dauerbeschäftigung wäre das Opa-Sein aber sicher nichts für ihn gewesen.
Zu einer Scheidung gehört eine finanzielle Auseinandersetzung. Nun hätte meine Mutter bei der Einstellung des Vaters in jedem Fall auf eine ordentliche Versorgung rechnen dürfen. Aber naturgemäß gab es auch Dinge, die sich nicht von selbst regelten, sondern ausgehandelt werden mussten, selbst dann, wenn beide Seiten auf eine einvernehmliche Lösung ausgerichtet waren. Ich vermied damals jede Äußerung zu kontroversen Fragen in der Sache. Vater hätte sie weder erwartet noch goutiert, aber Mutter wohl doch erhofft. Psychische Verletzungen lassen sich ohnehin nicht mit Geld heilen. Am Ende zeigte sich Vater durchaus großzügig und erklärte sich einverstanden, den norwegischen Besitz der Mutter bei der Berechnung der Unterhaltszahlungen unberücksichtigt zu lassen.
Wenn zwei Menschen, die eigentlich Humor besitzen, nicht mehr über dieselben Geschehnisse lachen können und nicht mehr freundlich übereinander und über sich selbst lachen können, dann stimmt etwas Grundlegendes nicht mehr. Von meinem Vater ist bekannt, dass er zumindest zwei ernsthafte außereheliche Beziehungen hatte. Das blieb mir bis 1974 ebenso verborgen wie die Gerüchte über ein ausschweifendes Sexualleben, die ich für maßlos übertrieben halte. Es lockte mich nicht, ihn zu bitten, für mich das Wahre vom Falschen zu trennen. Über so etwas offen zu reden, waren wir beide zu scheu und zu genant.
Nun ist es eine Binsenweisheit, dass zur Zerstörung einer Beziehung – jenseits der Frage von Schuld und Verantwortung im moralischen Sinn – immer zwei gehören. Während Willy sich immer öfter unverstanden fühlte, reagierte er mit zunehmender Sprachlosigkeit. Nur wenn seine Frau ihn wegen einer politischen Handlung kritisierte, was nicht oft vorkam, konnte er ungehalten werden. Rut hingegen wehrte sich durch Neckereien und Sticheleien, die in einer anderen Situation harmlos gewesen und vielleicht sogar lustig aufgenommen worden wären. In der Niedergangsphase ab 1966, die Zwischenhochs kannte, aber immer öfter einer resignativen Grundhaltung wich, wirkten sie jedoch destruktiv. Als die Trennung Anfang 1979 offiziell vollzogen wurde, war ich weder erstaunt noch unglücklich.
Im Gespräch bestätigte mein Vater mir, dass es eine andere Frau in seinem Leben gab: die Journalistin und Historikerin Brigitte Seebacher. Das wusste ich zwar schon, aber immerhin hat er es direkt angesprochen. Für mich war sofort klar, ich würde diese Wahl akzeptieren und mich vorbehaltslos um ein gutes Verhältnis zu Brigitte bemühen, weil ich den Vater-Sohn-Faden in Eintracht weiterspinnen wollte. Wir würden uns also wie bisher alle paar Monate, manchmal auch häufiger, in Berlin oder in Bonn sehen, meist zum Abendessen, und ich würde ihn gelegentlich auch in der gemeinsamen Wohnung des seit dem 9. Dezember 1983 verheirateten Paars besuchen. Ich konnte stets nur Mutter oder Vater einladen. Er drängte sich nie auf, und so habe ich ihm hier und dort auch manchmal den Vortritt gelassen.
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