E. T. A. Hoffmann. 100 Seiten. Alexander Kluy

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E. T. A. Hoffmann. 100 Seiten - Alexander Kluy Reclam 100 Seiten

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(1790–1855), ein begeisterter Hoffmann-Leser und Hoffmann-Verehrer, der zwischen 1817 und 1819 Deutschland, Italien und Österreich bereiste inklusive eifriger Treffen mit Autoren, Philosophen und Intellektuellen – auch mit E. T. A. Hoffmann –, am Berliner Gendarmenmarkt in nahezu identischer Blickhöhe ein. In seinen Reisebeobachtungen notierte er:

      »Ich hatte von meinen Fenstern eine ziemlich gute Aussicht auf den größeren Teil des Gendarmenmarkts, der einer der größten und schönsten Plätze Berlins ist. Mir gerade gegenüber auf der weitgestreckten Fläche lag eine Kirche, welche vermutlich ein Meisterstück des architektonischen Geschmacks Friedrichs des Zweiten ist, aber trotzdem aussieht, als ob sie vom Zuckerbäcker gebaut worden wäre.«

      Diese rasch ausgeführte Zeichnung (ein Tintenklecks platschte aufs Papier) ist eine Arabeske aus Wirklichkeit und Phantasie. Und führt zu allen Werk- und Lebens-Themen Hoffmanns. Ja, vereint sie auf diesem einen Blatt:

       Sehen – die bildende Kunst;

       Hören – die Musik;

       Fühlen – Sinne, Sinnlichkeit, Genuss;

       Denken – Reflexivität, Humor, Zeitspiegelung, Zeitverzerrung;

       sowie

       Vorstellen – alle phantasmagorischen Möglichkeiten von Literatur.

      Kein anderer Romantiker war ein derart großer Synästhetiker, ein Sinnesallvereiner und Universalsinnlichkeitsschilderer wie Hoffmann. In den Kreisleriana heißt es:

      »Ich sah den Stein – seine roten Adern gingen auf wie dunkle Nelken, deren Düfte sichtbarlich in hellen, tönenden Strahlen emporfuhren. In den langen, anschwellenden Tönen der Nachtigall verdichteten sich die Strahlen zur Gestalt eines wundervollen Weibes, aber die Gestalt war wieder himmlische, herrliche Musik!«

      Und:

      »Es ist kein leeres Bild, keine Allegorie, wenn der Musiker sagt, daß ihm Farben, Düfte, Strahlen als Töne erscheinen und er in ihrer Verschlingung ein wundervolles Konzert erblickt. So wie nach dem Ausspruch eines geistreichen Physikers, Hören ein Sehen von innen ist, so wird dem Musiker das Sehen ein Hören von innen, nämlich zum innersten Bewußtsein der Musik, die, mit seinem Geiste gleichmäßig vibrierend, aus allem ertönt was sein Auge erfaßt.«

      »Hoffmanns Gespenster entstammen dem Leben, das Gespenstische seiner Erzählungen ist jene Erfahrungsrealität des Daseins, die das Räderwerk der Wissenschaft mit dem Wort ›Gespenster‹ gewiss nicht fasst und mit allen Begriffen stets unzulänglich, welchen Tatbestand eine gleichlautende Nomenklatur verwischt.«

      Franz Fühmann

      Romantik war bei ihm urban. War nicht Landschaftszeichnung, Mittelaltervignette oder schwärmerische Metaphysik à la Novalis’ (1772–1801) »Was quillt auf einmal so ahndungsvoll unterm Herzen, und verschluckt der Wehmut weiche Luft?«. E. T. A. Hoffmann war der erste Großstadtbeobachter der deutschen Literatur. Seine Augen flanierten und phantasierten und imaginierten und nahmen das Flaneur-Genre eines Franz Hessel, eines Siegfried Kracauer um 100 Jahre vorweg. In Kracauers Erinnerung an eine Pariser Straße, einem Feuilleton aus dem Jahr 1930, vermischten sich Geschichte und Gegenwart, der Gang führte nicht nur durch den Raum, er führte auch durch die Zeit. Kracauer schrieb, dass »in Paris die Gegenwart den Schimmer des Vergangenen hat.« Der Text verrückt sich zum Traum, so bewegten sich denn auch Häuserwände auf den Straßenflaneur zu:

      »Was immer sie seien: enge Schluchten, die in den Himmel einmünden, ausgetrocknete Flussläufe und blühende Steintäler – ihre Bestandteile sind ineinander gewachsen wie die Glieder von Lebewesen.«

      Blühende Steintäler, arabeskes Figurengetümmel, die Gegenwart eine schimmernde Historie – alles schon da gewesen. Bei E. T. A. Hoffmann, 115 Jahre zuvor. Bei diesem, ein Jahr nach der letzten Hexenverbrennung in Deutschland geboren, als in Russland noch Leibeigene als »Ware« verkauft wurden, der später in Berlin die ersten großen Eisengießereien sah, 1818 das erste Dampfboot auf der Spree und 1821 den Beginn der industriellen Entwicklung Berlins miterlebte.

      Kein anderer deutscher Schriftsteller ist in aller Welt so berühmt gewesen und so berühmt geworden wie E. T. A. Hoffmann aus Königsberg, und das nicht nur dem Namen nach wie Goethe, Zelebrität eher vom Hörensagen. Und keiner ist so wie Hoffmann seit mehr als 200 Jahren derart »modern« gewesen. Und geblieben. Um beispielsweise die Leserschaft von Achim von Arnims (1781–1831) Roman Armut, Reichtum, Schuld und Buße der Gräfin Dolores (1810) zu zählen, bräuchte man wohl nicht einmal eine Hand; zwei Finger für die weltweite Leserschaft von Tiecks Vittoria Accorombona (1840) und wohl nur den digitus minimus, den kleinen Finger, für jenen einen Menschen, der (in den Vatikanischen Grotten unter dem Petersdom?) für Clemens Brentanos tiefkatholisches Spätwerk entflammt. Hoffmanns kunstvoll chaotische Lebens-Ansichten des Kater Murr (1819–1821) hingegen, wie viele sind noch heute davon begeistert! Und verzaubert! (Und nutzen den Kater als Nickname für Postings im Internet.) Edgar Allan Poe las Hoffmann. Balzac las ihn. Alexandre Dumas père übersetzte Nussknacker und Mausekönig (1816; Piotr Tschaikowski las die Arbeit, eine Umarbeitung, und adaptierte sie seinerseits als Ballett, er nannte sein Opus Der Nussknacker). Maupassant, Baudelaire und Dostojewskij wie auch Gogol bewunderten Hoffmann, der wie kein anderer deutscher Autor der Jahre 1800 bis 1820 bis ins 20. und ins 21. Jahrhundert hineingewirkt hat. Jacques Offenbach komponierte 1881 die sehr erfolgreiche Operette Les contes d’Hoffmann (Hoffmanns Erzählungen) nach einer Collage mehrerer seiner Erzählungen. 100 Jahre später – das zwischenzeitlich erstaunlich bis erschreckend schwache Interesse an ihm in Deutschland (Klaus Günzel: »Fürwahr: Was sollte eine Ära mit ihm anfangen, der die Kulturhistoriker das harmlose Etikett vom ›Biedermeier‹ angehängt haben?«) war erst in Neoromantik und Expressionismus neu entflammt, durch Autoren wie Gustav Meyrink, Komponisten wie Paul Hindemith und Künstler wie Alfred Kubin und Paul Klee. Und auch in der Filmkunst haben Hoffmanns Werke Spuren hinterlassen: Beispielsweise griff Ingmar Bergman in seinem letzten Kinofilm Fanny och Alexander (Fanny und Alexander, 1982) auf Hoffmann’sche Erzählmotive zurück. Der russische Regisseur Andrej Tarkowskij wollte wenig später unter dem Titel Hoffmanniana E. T. A. Hoffmanns letzte Tage verfilmen; sein vorzeitiger Tod 1986 durchkreuzte diesen Plan. Und Science-Fiction- und Fantasy-Literatur-Exegeten diskutieren bis in die Gegenwart, ob Hoffmanns Einfluss auf ihr Genre nun bis heute groß sei oder sehr groß.

      Eines geht durch Hoffmanns Schaffen – ein Riss. Denn erst mit 32 Jahren debütierte er, der Jurist, Komponist, Musiker und Kapellmeister, als Schriftsteller. Ein Alter, das ein anderer dichtender Jurist, der um drei Jahre ältere Wilhelm Heinrich Wackenroder (1773–1798), gar nicht erreichte – er war 1798 mit 24 Jahren gestorben (noch um 1875 betrug die Lebenserwartung für Männer in Deutschland durchschnittlich 35 Jahre). Ein dritter, der Frankfurter Friedrich Maximilian Klinger (1752–1831) – er hatte mit Sturm und Drang das Theaterstück geschrieben, das einer Literaturströmung den breitbeinigen Namen gab –, war mit 32 ausgeschrieben und hatte auf Ordonanzoffizier im russischen Heer umgesattelt. Ein anderer Stürmer und Dränger, Jakob Michael Reinhold Lenz (1751–1792), 23-jährig Autor des Stückes Der Hofmeister, war mit 32 ein hoffnungsloser Hofmeister. Hingegen hatte Christoph Martin Wieland (1733–1813) mit 32 Jahren bereits 43 Einzelpublikationen vorzuweisen plus sieben Bände mit Shakespeare-Übersetzungen.

      Hoffmanns Werk ist Ausdruck einer Zerrissenheit zwischen einander entgegengesetzten Polen. Zwischen Künstler und Bürger (ein Thema, das Thomas Mann auf- und übernahm), Realität und Traum, Tag und Nacht, Trauma und Lebendigkeit, Tiefe und quecksilbriger Ironie, Satire und peinigendem Schmerz, abgründiger Romantik und exaktem Realismus. »War er«, fragte Klaus Günzel sanft ketzerisch,

      »denn

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