Als die Flut kam. Kathrin Hanke

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Als die Flut kam - Kathrin Hanke

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reichte, den er nahm, und Socke dann befühlte. Johannes sah fasziniert dabei zu, wie sie Socke hochnahm und gleichzeitig ihren Kopf von den Knien hob, sodass sie das Kätzchen betrachten konnte. Ihr Gesicht war schmutzig und von feinen, sauberen Linien durchzogen, die die Tränen hinterlassen hatten. Dann richtete sie die Augen plötzlich auf ihn. An diesen Moment sollte er sich sein ganzes weiteres Leben erinnern. Ihre Augen waren groß, rund und von einem tiefen Blau. Er selbst hatte braune Augen, aber natürlich kannte er viele Leute mit blauen, doch solche wie ihre hatte er noch nie zuvor gesehen. Sie waren blau wie Tinte und noch schöner als ihre Haare.

      »Ich bin Anneliese, aber Muttel sagt Anne«, meinte sie, während sie ihn musterte.

      »Anne«, wiederholte er, als müsse er erst lernen, den Namen richtig auszusprechen. Noch einmal sagte er »Anne«, dann fragte er: »Wo ist deine Familie?«

      Kaum hatte er die Frage gestellt, schossen Tränen in Annelieses Augen. In diesem Moment tat sie ihm so sehr leid, dass auch ihm fast die Tränen kamen, er konnte sie gerade noch herunterschlucken. Er fragte sich, was er machen könnte, um sie zu trösten. War ihre Familie tot? Er richtete seinen Blick auf den Zettel in seiner Hand. Er konnte noch nicht lesen, aber er hatte so einen schon einmal gesehen, und der Vater hatte ihm erklärt, um was für einen es sich handelte. Es war ein wichtiges Dokument, das alle Flüchtlings- und Vertriebenenfamilien bei sich führen mussten, wenn sie in ihre neue Heimat kamen: Es war ein Zuweisungsschein, auf dem stand, wer sie waren und wo sie sich ansiedeln sollten. Da Anne den Zettel bei sich trug, war er sich jetzt fast sicher, dass ihre Familie tot und sie ganz allein unterwegs war.

      Ihm fiel nichts Besseres ein, als sie in die Arme zu nehmen, so wie Mutti es tat, wenn er sich verletzt hatte. Sie wiegte ihn dann auch immer hin und her. Das machte er jetzt ebenso mit Anneliese, begleitet von den Worten, die seine Mutter dabei sagte: »Pscht, pscht, alles wird gut.« Und dann setzte er noch das hinzu, was er in diesem Moment fühlte: »Ich werde immer für dich da sein und dich beschützen.«

      Zitat

      »Schenken, um Freude zu machen, ist immer etwas Gutes, ist etwas, was den Menschen ehrt. Es ist ein Zeichen der Liebe. Die Liebe aber ist im Grund doch die Kraft und die Macht, die allein das Leben lebenswert machen kann.«

      (Konrad Adenauer, aus: Weihnachtsansprache 1961)

      Kapitel 1

      Heiligabend 1961

      »Danke«, sagte Johannes. Mehr brachte er nicht heraus. Er hatte gerade vor aller Augen Annes Weihnachtsgeschenk für ihn ausgepackt und war überwältigt. Nicht nur, weil es für Annes Verhältnisse sicherlich recht teuer gewesen war, sondern ebenso, da es eine echte Überraschung für ihn war und sie sich Gedanken darüber gemacht hatte, ihm eine außergewöhnliche Freude zu machen. Die Familie Becker feierte jedes Jahr den Heiligen Abend mit Anne und ihrer Mutter Gertrud. Es war eine schöne Tradition, doch niemand von Johannes’ Familie erwartete im Gegenzug Geschenke von den beiden, die finanziell nicht gut gestellt waren. Dennoch legten Mutter und Tochter jedes Jahr eine kleine Aufmerksamkeit für alle auf den Gabentisch – meist eine große Schachtel Pralinen oder eine andere Süßigkeit. Heute hatten die beiden Kretschmar-Frauen ihre Gastfamilie mit einer großen Dose Quality Street beschenkt, über die sich Johannes’ Vater gleich hergemacht hatte. Dieter Becker liebte vor allem die weichen Karamellstangen und hatte sie sich alle rausgesucht. Für Johannes hatte Anne immer schon ein Extrageschenk dabei. Früher waren es selbst gemalte Bilder gewesen, später dann Bücher. Ein solch wertvolles Geschenk wie heute hatte es noch nie gegeben.

      Von seinen Eltern hatte er wie jedes Jahr ein paar selbst gestrickte Socken und ein Buch bekommen. Von seinen Geschwistern nichts – sie hatten ihn noch nie beschenkt, obwohl er sie in den letzten Jahren, seit er eigenes Geld verdiente, stets mit einer Kleinigkeit bedacht hatte. Dabei würden sie es sich leisten können. Magda hatte gut geheiratet – ihr Mann Rainer war, wie er selbst, bei der Bank angestellt – und sein Bruder Helmut arbeitete beim Norddeutschen Rundfunk als Techniker. Anne hingegen hatte nicht viel Geld zur Verfügung. Mit ihrem Sekretärinnengehalt konnte sie keine großen Sprünge machen, zumal sie ihre Mutter noch mit durchfüttern und deren regelmäßigen Arztrechnungen begleichen musste. Die beiden lebten nach wie vor in einer der Lauben in der Kolonie, in der sie vor über 15 Jahren am Ende ihrer Flucht aus Schlesien angekommen waren und Johannes Anne auf dem Weg gefunden hatte – sie waren bisher nicht umgezogen, da die Pacht für die Laube, die sie jährlich an die Stadt zahlten, so niedrig war. Gertrud, Annes Mutter, war damals, kurz bevor der Flüchtlingstreck in der Laubenkolonie angekommen war, zusammengebrochen. Sie hatten sie ein paar Kilometer entfernt in einer Böschung am Deich gefunden – halb verhungert, halb erfroren und halb tot. Annes Mutter hatte sich davon nie wieder ganz erholt. Sie war sowieso eine zierliche Frau, doch seit diesem Tag war sie immer kränklich gewesen, sodass sie kaum einer Arbeit nachgehen konnte. Als Anne noch klein gewesen war, hatte Gertrud Kretschmar sich und ihre Tochter über die Runden gebracht, indem sie für die Frauen der Kolonie nähte. Als gelernte Schneiderin konnte sie aus alten Stoffen die wunderbarsten Kleider, Anzüge oder Hemden zaubern. Genauso besserte sie alte Kleidung aus oder machte sie enger, damit ein Geschwisterkind die abgelegten Sachen der großen Schwester oder des großen Bruders tragen konnte, ohne auszusehen, als wäre es ein Clown. Für Johannes und seine Familie hatte Gertrud Kretschmar allerdings stets ohne Bezahlung genäht. Sie hatte sie abgelehnt. Aus Dankbarkeit. Johannes und seine Eltern hatten sie damals im April 1945 nicht nur todkrank von der Böschung beim Deich gezogen, sondern sie und Anne trotz der ohnehin schon beengten Laube auch bei sich aufgenommen und gepflegt, bis sie einigermaßen genesen war. Ganze vier Monate hatte die kleine Anne auf diese Weise bei Johannes’ Familie gewohnt – es war die schönste Zeit in seinem Leben gewesen.

      »Danke«, sagte Johannes jetzt ein weiteres Mal und betrachtete dabei noch immer gerührt die Uhr in seiner Hand. Es war eine Seiko und gerade, als er sie sich nun um sein Handgelenk legen wollte, sagte Magda: »Zeig mal!«, und streckte ihm fordernd ihre offene Handfläche entgegen. Eigentlich wollte Johannes ihr die Uhr nicht geben. Es widerstrebte ihm, dass seine Schwester die Uhr auch nur berührte, dennoch legte er sie ihr wortlos in die Hand. Dann erst suchte er den Blick von Anne, die ihre Augen ebenfalls auf ihn gerichtet hatte und ihn erfreut, dass ihr Geschenk gelungen war, anlächelte. Johannes lächelte zaghaft zurück. Sein Herz klopfte dabei spürbar, und er hatte einen Kloß im Hals. Heute würde er es ihr sagen, doch dazu mussten sie allein sein.

      Johannes war aufgeregt, so wie bereits seit Tagen, nachdem er den Entschluss gefasst hatte. Unter dem Weihnachtsbaum hatte Anne bereits ein Geschenk von ihm gefunden, ein Buch. Das Phantom der Oper von Gaston Leroux. Er hatte es selbst vor einigen Monaten gelesen, und die Geschichte hatte ihn berührt, denn auch er kam sich manchmal wie das Phantom in Annes Leben vor. Er war zwar nicht entstellt und lebte nicht verborgen vor allen Menschen, dennoch verglich er sein Leben mit dem von Eric, wie Leroux das Phantom der Oper genannt hatte, denn auch er war unglücklich verliebt und hatte sich bisher der Frau seines Herzens nicht geöffnet. Das wollte Johannes heute ändern, und dafür hatte er eine weitere Gabe im Schrank in seinem Zimmer versteckt, die seine Worte bekräftigen würde. Er musste nur noch auf die passende Gelegenheit warten, bis er es ihr unter vier Augen überreichen konnte.

      *

      Wenn sie jetzt nicht gleich aufstehen und ins Bad gehen würde, würde sie sich hier am Tisch übergeben. Die Übelkeit war plötzlich gekommen. Sie kannte das schon seit einigen Tagen und wusste deswegen, dass sie dringend aufstehen und sich erleichtern sollte, wenn sie nicht wollte, dass es ihr hier vor aller Augen am Weihnachtstisch hochkam. Denn den Reflex zu unterdrücken, ging meist nicht.

      »Anne, was ist mit dir, du bist ja plötzlich ganz blass«, bemerkte Magda nun auch. Es klang nicht besorgt, eher spitz. Magda hatte Anne noch nie besonders gemocht und hatte sie das immer schon spüren lassen. Als sie noch Kinder waren, hatte Magda sie oft geschubst, getreten, gepufft, gebissen oder auch bei den Erwachsenen für Dinge

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