Was ist der Mensch? Warum wir nach uns fragen. Georg W. Bertram

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Was ist der Mensch? Warum wir nach uns fragen - Georg W. Bertram Reclams Universal-Bibliothek

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      Georg W. Bertram

      Was ist der Mensch?

      Warum wir nach uns fragen

      Reclam

      2018 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

      Covergestaltung: Cornelia Feyll, Friedrich Forssman

      Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

      Made in Germany 2018

      RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

      ISBN 978-3-15-961386-4

      ISBN der Buchausgabe 978-3-15-019521-5

       www.reclam.de

       Für Luzia und Jonathan

      Vorbemerkung

      Dieses Buch hat einen irreführenden Titel. Die Frage »Was ist der Mensch?« wird und kann es nicht beantworten – zumindest nicht so, wie man es vielleicht erwarten würde. Das Ziel meiner Überlegungen besteht nämlich nicht darin, Bestimmungen zusammenzutragen, die den Menschen ausmachen. Ich gehe davon aus, dass ein solches Vorhaben zum Scheitern verurteilt wäre. Es lässt sich nicht einfach so sagen, wer wir Menschen sind. Wer es dennoch versucht, geht an vielem, was Menschen ausmacht, notwendigerweise vorbei. Unumgänglich wird er irgendeine historisch-kulturelle Konzeption beziehungsweise irgendwelche historisch-kulturellen Selbstverständnisse von Menschen mehr oder weniger absolut setzen. Wenn man das macht, landet man aber nicht bei Bestimmungen, die Menschen insgesamt umfassen. Man beginnt vielmehr, irgendeine Normierung von Menschen vorzuschlagen. Das allerdings steht – nicht zuletzt und ganz besonders – der Philosophie schlecht zu Gesicht.

      Was ich in diesem Essay vorhabe, ist so besser von seinem Untertitel her zu verstehen. Es geht mir darum zu klären, welche Bedeutung die Frage, wer wir sind, für uns als Menschen hat. Über dem antiken Orakelheiligtum in Delphi stand die prägnante Aufforderung »Erkenne dich selbst!«. Die Alten schätzten es also wohl so ein, dass es wichtig für uns ist, nach uns zu fragen. Aber warum ist dies so? Auch wenn ich an diesem Punkt noch nicht alles vorwegnehmen kann und will, ist so viel klar: Ich werde dafür argumentieren, dass für uns Menschen die Frage, wer wir sind, eine zumeist unterschätzte Bedeutung hat. Wir sind leicht geneigt zu denken, es stehe fest, was und wer wir Menschen sind. So scheint es uns erst einmal nicht sonderlich wichtig, überhaupt danach zu fragen.

      Hinter dieser Einschätzung aber steht ein Bild vom Menschen, das wir verabschieden sollten. Diesem Bild zufolge sind wir einfach in einer bestimmten Weise. Um einige Beispiele zu geben, wie man ein solches Einfach-so-Sein verstehen könnte: Als Menschen sind wir spezifische Tiere. Zudem sind wir erzogen worden und haben bestimmte Auffassungen übernommen oder diese uns, zum Teil mühsam, erarbeitet. Und das sind wir eben. Wenn wir uns so verstehen, verstehen wir uns aber falsch. Für uns Menschen gibt es kein Einfach-so-Sein. Wir sind nur dann etwas, wenn wir uns in einer bestimmten Weise verstehen. Ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht: Wir legen mit unseren Selbstverständnissen fest, worum es uns geht. Erst dadurch sind wir die, die wir sind.

      Dies gilt auch dort, wo uns alles ganz und gar selbstverständlich scheint. Nun könnte man einwenden wollen, dass wir dort, wo alles selbstverständlich ist, eben doch einfach so sind. Dies aber ist ein Irrtum. Wenn es uns wichtig ist, in irgendeiner Weise eine Selbstverständlichkeit zu betonen, geht es genau um sie. Aus diesem Grund fühlen sich diejenigen, die diese Selbstverständlichkeit verteidigen, gestört, wenn jemand – und sei es eine Philosophin oder ein Philosoph – ihnen Fragen stellt. Das Gefühl der Störung ist als Symptom zu begreifen. Es zeigt, dass es darum geht, mit seinen Selbstverständlichkeiten in Ruhe gelassen zu werden. Das aber ist mehr, als einfach nur in irgendeiner selbstverständlichen Weise zu sein. Es ist eine bestimmte Weise, in der es einem um etwas geht – in diesem Fall unter anderem um die Bewahrung von Selbstverständlichkeiten.

      Die Überlegungen dieses Buches wollen einen Beitrag dazu leisten, das Bild vom Einfach-so-Sein des Menschen zu überwinden. Dieses Bild können wir auch mit dem Begriff der Natur artikulieren, indem wir sagen, dass Menschen von Natur aus in einer spezifischen Weise sind. Man kann hier von einer Naturalisierung des Menschen sprechen, die ich einer grundlegenden Kritik unterziehen will.

      Nun leben Menschen ja nicht nur in einer natürlichen, sondern auch in einer kulturellen Umwelt. Entsprechend kann man denken, dass Menschen nicht nur natürlich bestimmt sind. Hier lässt sich der aus der Philosophie Ludwig Wittgensteins (1889–1951) stammende Begriff der Lebensform heranziehen,1 um zu sagen, dass Menschen in einer spezifischen Lebensform leben. Der Begriff der menschlichen Lebensform ist aber zumeist nur eine andere Art und Weise zu sagen, dass Menschen einfach so sind. Im Zuge einer Kritik problematischer Naturalisierungen muss man demnach auch den Begriff der Lebensform kritisch unter die Lupe nehmen.

      Wer das, was Menschen ausmacht, in der ein oder anderen Weise naturalisiert, trägt der Tatsache keine Rechnung, dass sie nur sind, indem es ihnen in bestimmter Weise um etwas geht. Menschen stehen grundsätzlich vor der Aufgabe, zu bestimmen, was sie in all ihren Dimensionen – in ihrem Handeln, ihrem Empfinden, ihrer Körperlichkeit, ihrem Sprechen und vielem anderen mehr – ausmacht. Um das besser zu verstehen, muss man ein anderes Bild des Menschen entwerfen. In der Erläuterung dieses anderen Bildes stehen nicht die Begriffe der menschlichen Natur oder der menschlichen Lebensform im Zentrum, sondern, wie sich zeigen wird, zum Beispiel diejenigen der Selbstbestimmung und der Offenheit im Sinne von Freiheit.

      Menschen sind mit der Anforderung konfrontiert, sich selbst zu bestimmen und sich dadurch Freiheit zu erarbeiten. Sie sind nicht von Natur aus selbstbestimmt und können auch nicht ihre Lebensform als Garant für Selbstbestimmung anführen, sondern haben Selbstbestimmung als Chance und Last gleichermaßen zu realisieren. Analog verhält es sich mit Freiheit, die unter anderem Jean Paul Sartre (1905–1980) dem Menschen ins Stammbuch geschrieben wissen wollte.2 In diesem Stammbuch steht zwar einiges an natürlichen Anlagen, nicht aber Freiheit. Wir machen in unterschiedlicher Weise immer aufs Neue die Erfahrung, dass Freiheit nur dort realisiert ist, wo sie errungen wurde. Sie ist ein entscheidendes Moment dessen, was Menschen aus sich machen können. Dabei steht die einmal gewonnene Freiheit immer in der Gefahr, wieder verloren zu gehen. Sie ist also nichts, was sich – zum Beispiel im Rahmen einer Lebensform – stabilisieren ließe.

      In dem Bild vom Menschen, das ich zeichnen will, hat die Frage, wer wir sind, eine zentrale Bedeutung. Sie ist entscheidend dafür, dass Menschen etwas aus sich machen. Menschen beantworten die Frage, wer sie sind, immer in spezifischer Weise. Unter anderem dadurch werden sie zu genau denen, die sie sind. Antworten geben sie zum Beispiel mittels ihrer religiösen Überzeugungen, mit Vorstellungen, die in Kunstwerken artikuliert werden, oder in Grundregeln, die sie für ihr Zusammenleben formulieren bzw. an die sie sich in diesem Zusammenleben halten. Die Überzeugungen, Vorstellungen und Grundregeln sind prägend für die Art und Weise, wie Menschen ihren jeweiligen Alltag durchleben. Sie kommen nicht nur als kultureller Zusatz zum Alltag hinzu, sondern sind das, was dem Alltag überhaupt Gestalt verleiht.

      Wenn dies aber nun einmal so ist: Warum sollte man sich dann überhaupt lange mit der Frage befassen, warum wir nach uns fragen? Es scheint doch so, als wolle ich dafür argumentieren, dass wir unumgänglich Antworten auf die Frage geben, wer wir sind. Aber so einfach ist es nicht. Das Problem ist, dass wir uns in unseren Antworten auf die Frage, wer wir sind, missverstehen können. Wir können sie so verstehen, als stellten wir einfach fest, wer wir sind. Nennen wir dieses Missverständnis »eine Vergegenständlichung des Menschen durch sich selbst«. Eine solche Vergegenständlichung droht unumgänglich im Rahmen menschlicher Selbstbestimmung.

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