Was ist der Mensch? Warum wir nach uns fragen. Georg W. Bertram
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An diesem Punkt der Überlegungen können wir diese Fragen noch nicht beantworten. Aber wir können jetzt schon ein typisches Fehlverständnis der Frage nach dem Menschen feststellen. Ganz im Sinne der angesprochenen naheliegenden Antwort wird die Frage, wer wir sind, oft so verstanden, als gehe es darum, uns von Tieren zu unterscheiden. Entsprechend legt man die klassische Bestimmung des Menschen als eines vernünftigen Tiers (auf die ich in meinen Überlegungen noch mehrfach zurückkommen werde) so aus, dass sie die spezifische Differenz des Menschen artikuliert. Von einer »spezifischen Differenz« spricht man im Anschluss an Aristoteles (384–322 v. Chr.), wenn man Arten im Rahmen von umfassenderen Gattungen voneinander unterscheiden will. Der Mensch gehört demnach zur Gattung der Tiere. Innerhalb dieser Gattung unterscheidet er sich durch Vernünftigkeit. Auf diese Weise kann man, so scheint es, den Menschen von anderen Tieren unterscheiden. Dabei ist es letztlich unerheblich, ob man Vernünftigkeit oder etwas anderes für das unterscheidende Merkmal hält, das Menschen ausmacht. Wer überhaupt nach einer festen Unterscheidung des Menschen vom Tier fragt, setzt oft im Sinne der Gattung-Art-Struktur etwas voraus, das den Menschen (als eine besondere Art) wesentlich ausmacht.
Wenn allerdings die Frage danach, wer wir sind, nicht als eine kognitive Frage zu verstehen ist, dann sind entsprechende Versuche, uns von Tieren abzugrenzen, zum Scheitern verurteilt. Und tatsächlich: Wir können uns nicht stabil von Tieren unterscheiden. Wie nicht zuletzt die Diskussionen zum Beispiel um die Intelligenz von Tieren und ihren Zeichengebrauch zeigen,5 gibt es immer wieder gute Gründe, keine strikten Unterscheidungslinien zwischen Menschen und Tieren zu ziehen. Dass in entsprechenden Diskussionen immer wieder mit großer Verve für unsere Verwandtschaft zu und für unsere Unterschiedenheit von Tieren gestritten wird, gibt einen ersten Hinweis darauf, worum es geht: Wir positionieren uns in unseren Antworten auf die Frage, wer wir sind, immer wieder auch Tieren gegenüber. Diese Positionierung ist im Sinne einer Selbstfestlegung zu verstehen. Wir legen uns auf eine bestimmte Nähe beziehungsweise Entfernung Tieren gegenüber fest.
Noch einmal zugespitzt gesagt: Wer nach dem Unterschied des Menschen vom Tier fragt, der stellt nicht einfach etwas fest, sondern gestaltet den Unterschied durch die Antwort, die er auf die Frage hin gibt, selbst mit. Nun darf man aber diese These nicht in den falschen Hals bekommen. Wenn man in ihr den antirealistischen Zungenschlag hört, demzufolge wir aus Zusammenhängen der Wirklichkeit einfach machen können, was wir machen wollen, dann versteht man sie falsch. Dass wir unsere Unterschiede zu Tieren durch unsere Antworten auf die entsprechende Frage gestalten, bedeutet, dass wir uns selbst in bestimmter Weise gestalten, indem wir uns Tieren gegenüber positionieren. Das, was uns als Menschen ausmacht, steht demnach nicht einfach so fest, sondern unterliegt einer konstanten Neubestimmung. Eine solche Neubestimmung leisten wir unter anderem durch die Art und Weise, wie wir uns als Tiere oder als von ihnen entfernt verstehen. So ist unser Unterschied zu Tieren aufschlussreich für uns, allerdings nicht in dem Sinn, dass dieser Unterschied sich einfach nachvollziehen ließe, sondern so, dass wir mittels seiner klären, um was es uns als Menschen geht.
Wir gewinnen durch die Überlegungen zur Differenz von Mensch und Tier einen ersten Fingerzeig darauf, wie die Frage, wer wir sind, zu verstehen ist. Die Frage führt dazu, dass wir uns in bestimmter Weise festlegen. Wir machen etwas aus uns, indem wir die Frage, wer wir sind, beantworten. Oder anders gesagt: Wir gestalten uns in bestimmter Weise. Diese Selbstgestaltung ist praktischer Natur.
In allgemeiner Form können wir aus den bisherigen Überlegungen folgende Quintessenz ziehen: Die Frage, wer wir sind, hat keinen kognitiven, sondern einen praktischen Charakter. Unsere Antworten auf diese Frage geben wir nicht aus der unbeteiligten Zuschauerperspektive, sondern aus der Perspektive derjenigen, die praktisch in das Projekt der Realisierung des Menschen verwickelt sind. Wie aber können wir das verstehen? Worin hat die Frage nach uns selbst in diesem praktischen Sinn ihre Wurzeln? Meine weiteren Ausführungen sollen hierauf eine Antwort geben. Sie sollen klären, inwiefern die Frage danach, wer wir sind, für unsere praktische Selbstgestaltung relevant ist.
Die folgenden Überlegungen gehen von nun an in sieben Schritten voran:
Im ersten Schritt setze ich bei der klassischen philosophischen Bestimmung vom Menschen als einem – zumeist im Kontrast zum Tier als solches gefassten – Mängelwesen an. Auch wenn dieser Begriff des Menschen als eines (noch) »nicht festgestellten«, eines »unbestimmten Tiers«6 vielfach das Selbstverständnis von Menschen prägt, wird er sich doch als unangemessen erweisen.
Der zweite Schritt bringt aus diesem Grund den bereits erwähnten Begriff des Menschen als eines vernünftigen Tiers ins Spiel. Aber auch hier zeigen sich Probleme, deren Kern – so werde ich argumentieren – darin liegt, die für den Menschen charakteristische Unbestimmtheit zu denken.
Um dies möglich zu machen, gilt es im dritten Schritt erst einmal, den wesentlich geschichtlichen Charakter der Realisierung von Vernunft nachzuvollziehen.
Dazu aber gehört, wie ich im vierten Schritt darlege, besonders die stete Drohung, dass vernünftige Praktiken erstarren. Diese Feststellung soll uns zu dem Gedanken führen, dass Vernunft durch selbstkritische Praktiken realisiert wird.
Vor diesem Hintergrund besteht der fünfte Schritt darin, Selbstkritik zu durchdenken. Sie kommt, so argumentiere ich, nur dadurch zustande, dass man die eigenen Überzeugungen und das eigene Handeln an dem misst, was man für bedeutungsvoll erachtet, wobei das, was bedeutungsvoll ist, selbst in eigenen Praktiken etabliert wird.
Im sechsten Schritt vollziehe ich nach, inwiefern selbstkritische Praktiken die für den Menschen charakteristische Unbestimmtheit verständlich machen. Sie ergibt sich gleichermaßen aus der durch Selbstkritik realisierten Öffnung zur Welt, zu anderen und zur Zukunft hin.
Auf Grundlage der ersten sechs Schritte gebe ich dann eine Antwort auf die zentrale Frage, die ich hier schon einmal vorwegnehme, damit zumindest andeutungsweise klar ist, wohin die Reise geht: Wir fragen uns, wer wir sind, um uns auf das festzulegen, was für uns bedeutungsvoll ist und uns so selbstkritisch auf die Welt, die anderen und die Zukunft hin zu öffnen.
Am Ende dieses Essays kehre ich dann zu seinem Ausgangspunkt zurück.
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