Sterbehilfe. Katharina Woellert
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Die letzte Lebensphase wird seither anders betrachtet. Aus ethischer Perspektive stellt sich eine neue Problemlage: Es scheint so, als erzeuge die Intensivmedizin in manchen Fällen am Lebensende, anstatt zu helfen, eher weiteres Leid, was eigentlich mit medizinethischen und anderen moralischen Grundsätzen nicht vereinbar ist. Heute muss oftmals entschieden werden, ob und wann eine medizinische Maßnahme nicht mehr durchgeführt wird. Aber daraus ergibt sich eine Reihe neuer Fragen:
• Wer soll dies entscheiden?
• Welche Kriterien sollen bei einer solchen Entscheidung angewandt werden?
• Wer kann beurteilen, was Lebensqualität im ganz konkreten Fall für die betreffende Person bedeutet?
• Wer von den möglicherweise in die Entscheidungsfindung einbezogenen Personen bringt welche eigenen, mitunter moralisch umstrittenen, Interessen in diese Findungsversuche mit ein?
• Welche sonstigen Gemeinschaftsinteressen, wie z. B. eine kostenintensive Behandlung am Lebensende eines 80-jährigen Patienten, werden hier aktuell?
• Ist eine solche Behandlung zu rechtfertigen, wenn dadurch Ressourcen, die sonst jemanden mit größeren Heilungschancen zur Verfügung stünden, gebunden werden?
Diese und andere Fragen werden derzeitig in der Debatte über Rechtmäßigkeit und Stellenwert von Sterbehilfe und Patientenverfügungen thematisiert. Die Notwendigkeit dieser Debatte wird häufig auf die heutige, pluralistische Wertegesellschaft zurückgeführt (Neitzke / Frewer 2005), in der der Orientierungsrahmen für das sittlich Gute sehr weit gefasst ist. Für Entscheidungen über richtiges oder falsches Handeln angesichts Sterben und Tod gibt es scheinbar keine allgemein verbindlichen und eindeutigen Kriterien mehr. Gleichzeitig gewann aber in den letzten dreißig Jahren die Wertschätzung der individuellen Autonomie zunehmend an Bedeutung, während die paternalistische ärztliche Fürsorge ihre Berechtigung weitestgehend einbüßte. Parallel zum Bedeutungsverlust der traditionellen – und vor allem christlich geprägten – Werte wurde das Kriterium der Selbstbestimmheit somit zu einem wesentlichen Orientierungspunkt und zu einer wichtigen Entscheidungshilfe.
Aber auch das Bewusstsein für ethisch komplexe und konfliktträchtige Situationen in der medizinischen und pflegerischen Versorgung nahm sowohl auf Seiten der Patienten wie auch auf Seiten von Ärzten und Pflegenden zu. Die Veränderungen im Gesundheitswesen, die Umstrukturierungen in den Krankenhäusern verbunden mit neuen Aufgaben und Arbeitsintensivierungen und damit die Konfrontation mit bislang vernachlässigten Fragen werden von vielen Beschäftigten als Belastungen empfunden, mit erheblichen körperlichen und seelischen Folgen – bis hin zum Burnout. Ähnliches gilt für Angehörige sowie für ehrenamtliche Sterbe- und Trauerbegleiter. Vor diesem Hintergrund lassen sich zwei neue Entwicklungen im Bereich der medizinischen Berufe erklären: das wachsende Bedürfnis nach professioneller Entscheidungshilfe in medizinisch-klinischen Konfliktsituationen und die vor allem von Ärzten empfundene Rechtsunsicherheit in den angesprochenen Situationen, die u. a. Ursache für die Forderungen nach einer gesetzlichen Regelung der Sterbhilfe ist.
Ebenfalls neu ist, dass Medizin- und Pflegeethik zunehmend Gegenstand von Studium und Ausbildung im Bereich der medizinischen Berufe werden. Der gewachsene Stellenwert der Ethik kommt dadurch zum Ausdruck, doch befindet sich diese Entwicklung meistenteils erst am Anfang.
Mit der Vermittlung von ethischen Inhalten möchte man die Kompetenz im Umgang mit den aufgeworfenen Fragen erhöhen. Was aber ist Ethik, was kann sie leisten? Der Begriff Ethik stammt von dem griechischen Wort „ethos“ ab, welches Gewohnheit, Sitte oder Brauch bedeutet. Darin ähnelt es dem von dem lateinischen Ausdruck „mos“ abgeleiteten Wort Moral. Beide – Ethos und Moral – beziehen sich also auf die in einer Gesellschaft als richtig anerkannten Regeln, Normen und Werte. Beide Begriffe werden deshalb auch oft synonym gebraucht. Ethik aber ist mehr. Sie setzt sich kritisch mit der Herleitung und Legitimation sittlicher Leitsätze auseinander, sie versucht, Lösungen aufzuzeigen, wenn zwei als gut anerkannte Prinzipien in einen Widerspruch geraten. Es handelt sich dabei um eine ureigene philosophische oder auch wissenschaftliche Herangehensweise. Im Gegensatz dazu weicht das Adjektiv ethisch von dieser Unterscheidung im allgemeinen Sprachgebrauch ab und bezeichnet das, was gemeinhin als gut und sittlich gilt. Sittlichkeit wiederum ist ein anderer Ausdruck für das moralisch Richtige.
Die grundsätzliche Frage, wie Sittlichkeit zu begründen ist, lässt sich auf zweierlei Weise beantworten. Man kann von Werten ausgehen, die, ähnlich den Naturgesetzen, der Welt innewohnen und für alle Menschen und Lebewesen absolute Gültigkeit haben; im religiösen Sinne kann man diese als gottgegeben auffassen. Oder man begreift sie als Ergebnis einer mehr oder weniger bewussten Übereinkunft innerhalb einer Gesellschaft. Wir gehen davon aus, dass die Vorstellungen vom sittlich richtigen Handeln z. B. im Zusammenhang mit Sterben und Tod Ergebnis einer gesellschaftlichen Auseinandersetzung um Werte sind.
Darüber hinaus ist zu fragen, woran sich das Urteil über moralisch richtig der falsch orientiert. So kann man z. B. die Folgen einer Handlung (teleologischer Ansatz) oder die ihr zu Grunde liegenden Moralprinzipien (deontologischer Ansatz) als Anhaltspunkte für die Beurteilung einer Tat bemühen. Das kann im konkreten Fall einen großen Unterschied ausmachen. Bei Anerkennung von Würde und Selbstbestimmung als hohe moralische Güter ließe sich im teleologischen Sinne abwägen, ob die Tötung eines schwerst kranken Menschen auf dessen ausdrücklichen Wunsch hin das Ziel erreicht, seine Würde und Selbstbestimmung zu wahren; wenn ja, wäre die Tötung dieses Menschen entsprechend zu rechtfertigen. – Aus deontologischer Perspektive kann sich dieser Fall ganz anders darstellen. Ein weithin anerkannter Grundsatz, der ganz besonders für die Personen, die in der Versorgung von Kranken beschäftigten sind, Gültigkeit hat, lautet: „Du sollst nicht töten. “ Im deontologischen Sinne ist damit eine Tötung nicht zu rechtfertigen. Es ist also möglich, dass zwei anerkannte sittliche Prinzipien in einen Widerspruch geraten und die Beurteilung einer Handlung, je nach Auswahl des Prinzips, sehr unterschiedlich ausfällt.
Das vorliegende Buch bietet eine erste Orientierungshilfe zum großen Themenkomplex der ethischen und rechtlichen Aspekte der Sterbebegleitung und Sterbehilfe. Die mittlerweile kaum mehr überschaubare Fülle an Literatur zu diesem Thema richtet sich teils an Laien und teils an medizinische bzw. ethische Fachleute. Sie behandelt sowohl einzelne Aspekte als auch den gesamten Komplex Sterbehilfe. Im Unterschied zu diesen Publikationen informiert die vorliegende Schrift überblicksartig über Fakten und skizziert die verschiedenen in der aktuellen Diskussion geäußerten Positionen.
In der Darstellung gehen wir folgendermaßen vor: Einleitend werden wir den Stellenwert von Sterben und Tod in der heutigen Gesellschaft thematisieren (Kapitel 1). Im Anschluss geht es um die Definitionen und Erörterung der wichtigsten Begriffe zum Thema sowie um Vorschläge zu einer alternativen Terminologie (Kapitel 2). Es folgt ein Überblick über die Rechtslage zur Sterbehilfe – in Deutschland sowie im europäischen Ausland (Kapitel 3). Sodann thematisieren wir die Bedeutung von Würde und Selbstbestimmung, derjenigen Werte also, denen im Kontext von Sterbesituationen eine herausragende Bedeutung zukommt (Kapitel 4). Im Anschluss stellen wir verschiedene Instrumente vor, die die Patientenautonomie in der ärztlichen und pflegerischen Praxis sichern sollen (Kapitel 5). Das nächste Kapitel erörtert den Zusammenhang zwischen öffentlicher Debatte und individueller Betroffenheit im Bereich Sterbehilfe. Hier werden wir zudem Instrumente vorstellen, die dabei helfen sollen, mögliche Konflikte im Entscheidungsprozess zu regeln (Kapitel 6). Abschließend gehen wir auf Palliativmedizin und Hospize ein, die zu einem Sterben in Würde beitragen sollen (Kapitel 7).
Wir richten uns an einen breiten Leserkreis: an Studierende unterschiedlicher Fachrichtungen, an Auszubildende der verschiedenen Pflegeberufe, an Ärzte und Pflegende, an die Ehrenamtlichen in der Palliativversorgung und Sterbebegleitung sowie an allgemein am Thema Interessierte. Vor allem aber soll diese Einführung Betroffene und deren Angehörige erreichen.
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