Radio. Hans-Jürgen Krug

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der neueren und boomenden Medien- und Kommunikationswissenschaften nimmt der Hörfunk seit Langem eine Randposition nahe der Nichtbeachtung ein. Zwischen dem riesigen Angebot und der |7◄ ►8| dauerhaften Nutzung einerseits sowie der wissenschaftlichen Wahrnehmung andererseits besteht eine riesige – und keineswegs unbekannte – Kluft. Der Siegener Medienwissenschaftler Helmut Kreuzer nannte das Radio schon 1997 ein »vernachlässigtes Forschungsobjekt«. Der Hamburger Medienwissenschaftler Knut Hickethier hielt 2004 »das Ausblenden des Radios in der Medienwissenschaft … für einen Fehler«. Bis heute hat sich die Forschungssituation kaum geändert.

      Radioforschung

      Die Geschichte des deutschsprachigen Radios ist weitgehend ungeschrieben. Die frühe Radiogeschichtsschreibung stand lange »unter dem Eindruck eines den Zeitgenossen noch nicht bekannten Endes« (Lersch 2004, 33) und konzentrierte sich auf den jungen Weimarer Hörfunk sowie die nationalsozialistischen Jahre. Doch je länger das Radio sendete, desto rarer wurden die Beschreibungen. Programm- und rezeptionsgeschichtliche Arbeiten etwa gibt es nur »als erste Ansätze« (Dussel 2004, 12). Über Politik, Unterhaltung oder Werbung im Radio, über den Siegeszug der Popwellen, über das duale Hörfunksystem oder die langsame Formatierung (fast) der gesamten Radiolandschaft seit Ende der 1980er-Jahre weiß man nur wenig; eine Ausnahme stellt einzig das Hörspiel dar (Krug 2008). Eine Geschichte des Radiohörens steht aus und die Ökonomie des Hörfunks ist ein Desiderat. Immerhin erlauben jüngst publizierte Jubiläumsschriften (WDR, SR, BR, HR) erstmals langfristige und materialreiche Einsichten in die Selbstbeschreibungen der Sender.

      Die Ursache dieser still versandeten Hörfunkforschung dürfte die für Deutschland typische Nähe von Kultur und Radio gewesen sein. Die Gründungsidee vom »Kulturfaktor Hörfunk« wurde über die Jahrzehnte langsam aufgelöst und bestand nur noch in Rudimenten, als sich in den späten 1970er-Jahren aus der Literaturwissenschaft die Medienwissenschaft zu entwickeln begann. Die ersten und meistzitierten ›Radiotheorien‹ stammen nicht zufällig von Schriftstellern (Bertolt Brecht) oder Redakteuren (Rudolf Arnheim, Eugen Kurt Fischer). Erst nach dem Zweiten Weltkrieg kam es zu folgenreichen Neupositionierungen: Die Sender weiteten ihre Hörerforschung aus und unterstellten sie ab Mitte der 1980er-Jahre direkt den Intendanten; Radioforschung wurde weitgehend mit interner, empirischer, demoskopischer und profilschärfender »Begleitforschung« identisch und »nur ein begrenzter Teil der Studien« (Klingler 1993, 479) wurde öffentlich. Da aus den lange Jahrzehnte eher locker aus Einzelsendungen komponierten Hörfunkprogrammen |8◄ ►9| medienerforscht konzipierte, bruchvermeidende Formatradios wurden, entstand ein weiteres Problem: »Ein Formatradio«, so Wolfgang Hagen, könne »von außen – unter Absehung der sie von innen her steuernden Managementfunktionen – sinnvoll überhaupt nicht beschrieben werden« (Hagen 2005, 302).

      Eine »eigenständige Radiowissenschaft« (Schanze 2002, 305) konnte sich in der Bundesrepublik nie etablieren. Die wissenschaftlich-akademische Radioforschung blieb auf eine Vielzahl sehr heterogener und zeitlich meist sehr eingegrenzter Arbeiten aus unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen (Germanistik, Geschichte, Ökonomie, Jura) beschränkt. Die avanciertesten Medientheorien von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, Norbert Bolz, Vilém Flusser, Jürgen Habermas, Friedrich Kittler, Niklas Luhmann oder Paul Virilio kommen ohne das (deutschsprachige) Radio aus und die Radioforschung ohne diese Theorieanschlüsse.

      Gliederung

      Das Grundprinzip des Radios ist eigentlich ganz einfach und erstaunlich stabil: Ein Sender strahlt ein akustisches Angebot aus, das (viele) Empfänger ausschließlich mit einem Empfangsgerät hören können. Ohne Technik (auf der Basis von Elektrizität) gibt es kein Radio. Fast alles andere aber hat sich seit den Anfängen des Hörfunks in Deutschland 1923 dramatisch verändert. Selbst die Bezeichnungen für das neue Medium blieben nicht einheitlich: zunächst sprach man in Deutschland vom Funk oder vom Rundfunk. Dann setzte sich langsam der – das Fernsehen ausschließende – Terminus Hörfunk durch. Er sei erst »neuerdings aufgekommen« heißt es noch 1970 im »Fischer Lexikon Publizistik«. Spätestens mit der Einführung des Privatfunks 1986 wurde der Begriff Hörfunk zurückgedrängt. Es etablierte sich das – alltagssprachlich natürlich erheblich ältere – Wort Radio.

      Diese Einführung erzählt nicht die Geschichte der ungezählten Radioprogramme in Deutschland – dazu fehlt es auf fast allen Ebenen an Vorarbeiten. Und sie vertritt keine einzelmediale Radiotheorie (Faulstich 1991). Denn das Radio und seine Entwicklungen sind ohne die Auseinandersetzungen mit anderen Medien (Presse, Fernsehen, Internet) nicht zu verstehen. Schon 1913 zeigte Wolfgang Riepl, dass etablierte Medien durch neue Medien verändert werden und dass stetige Neupositionierungen stattfinden; schließlich werden aus neuen Medien irgendwann alte Medien, und so ist es auch dem Radio ergangen. 1923 war der Hörfunk das neue, unbekannte, sich selbst ungewisse akustische Medium, spätestens|9◄ ►10| in den 1960er-Jahren war das bereits ganz anders. Kapitel 1 erzählt von der Etablierung des Hörfunks auf einem von Papiermedien dominierten Informations-, Kultur-, Werbungs- und Unterhaltungsmarkt, den Möglichkeiten eines nur auf Stimmen, Töne und Geräusche setzenden, flüchtigen, aktuellen und zeitlich strukturierten Mediums und seinen Veränderungen bis in die Gegenwart. Ein wesentlicher Bestandteil ist, wie sich das Radio (gegen Presse, Fernsehen, Internet) stetig neu positionieren und durch technische (und programmliche) Innovationen neue Terrains erobern und neue Selbstdefinitionen entwickeln musste. Da der Hörfunk in Deutschland vor allem ein regionales Medium war und ist, sind diese Entwicklungen räumlich und zeitlich sehr unterschiedlich abgelaufen; allgemeingültigere Zäsuren lassen sich in der Radiogeschichte oft nur auf sehr hohem Abstraktionsniveau feststellen.

      Kapitel 2 widmet sich den ökonomischen Grundlagen des Hörfunks in Deutschland. Da der Hörfunk vor allem durch eine von 1924 bis 1970 konstante Gebühr von 2,00 Mark finanziert wurde, geriet dieser Themenbereich weitgehend aus dem Blickfeld von Medien- und Kommunikationswissenschaft. Dabei produzierte die Rundfunkwirtschaft schon 1929 durch Gebühren, Geräte, Löhne oder Radiozeitungen einen Produktionswert von der Größe der deutschen Braunkohlenwirtschaft. Seit den Anfängen spielte Werbung auch zur Finanzierung des Programms eine Rolle, ihre finanzielle Bedeutung nahm sogar stetig zu. Und seit Mitte der 1980er-Jahre hat sich neben dem öffentlich-rechtlichen Hörfunk ein privater Radiomarkt (mit vielen Verbindungsgliedern) herausgebildet. Der Hörfunk musste schon immer auch finanziert werden. Dieses Primat der Ökonomie hatte vielfältige Folgen.

      Traditionellerweise widmete sich die (literaturwissenschaftliche) Hörfunkforschung einzelnen Werken, vor allem Hörspielen. Die Entwicklungen in den letzten Jahrzehnten haben die Bedeutung einzelner Sendungen deutlich reduziert, nicht mehr das einzelne Werk, die Welle ist die neueste Botschaft geworden. Kapitel 3 beschreibt, wie aus dem Einschaltmedium Hörfunk das Begleitmedium Radio und dann das allgegenwärtige Formatradio geworden ist. Seit den Anfängen mussten die Hörfunkproduzenten ihre Inhalte zeitlich ordnen und spezifische Programme herausbilden. Die historische Entwicklung ging vom relativ einfach erstellten »Kästchenprogramm« zu präzise geplanten, computergestützten und mehr oder weniger deutlich voneinander unterscheidbaren Wellen und Radiotypen. In diesen modernen Programmen ist nichts mehr dem Zufall oder der Abweichung überlassen: Die einzelne »Sendung« ist nicht mehr autonom; sie ist Teil des »durchhörbaren« Gesamtprogramms, der Welle, der Marke.

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      Ohne Inhalte, ohne Themen freilich gäbe es kein Radio – die Strukturen blieben leer. Die Inhalte kommen aus den unterschiedlichsten Bereichen, sie sind mal Unterhaltung, Kultur, Politik oder Information, mal Werbung. Alle werden vom Hörfunk gesendet und alle folgen ihren eigenen Logiken. Die Information will Neuigkeit und Überraschung, die Werbung Lockung und Verkauf, die Unterhaltung Vergnügen, die Kultur Ästhetik und Besserung, die Musik Emotionen, und diese Elemente wurden zunächst nacheinander angeboten (Programm) und für »alle« gesendet. Der Hörfunk der Mittelwellenjahre bildete also nicht nur, er unterhielt nicht nur und er warb nicht nur: seine Einheit lag in der ständigen akustischen Irritation der Hörer und im ständigen Training des Umgangs mit Irritation. Mit der Zunahme der Programme, der Ausdifferenzierung der Wellenstrukturen und der gegenseitigen

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