Erlebnispädagogik. Werner Michl
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Zwei Vordenker: Rousseau und Thoreau
1993 haben Bernd Heckmair und ich in der ersten Auflage des Buches „Erleben und Lernen. Einführung in die Erlebnispädagogik“ Jean Jacques Rousseau (1712–1778) und Henry David Thoreau (1817–1862) als Vordenker der Erlebnispädagogik bezeichnet, was mittlerweile in den Lehrkanon überging und selbst in „Wikipedia“ zitiert wird. Rousseau und Thoreau sind heute noch aktuell und haben auf ihren Kontinenten Spuren hinterlassen. Rousseau hat eine Staatsphilosophie formuliert, und der dazu passende Mensch sollte durch die Erziehung geformt werden. Rousseau philosophiert über Natur und das Leben in Einsamkeit und Einfachheit, Thoreau setzt dies in die Tat um.
Rousseau oder das Recht auf Kindheit. Rousseau nimmt einiges vorweg, was später in der Romantik zum Tragen kommt. Durch seine Ideen erfährt die Aufklärung einen ersten Bruch. In den „Bekenntnissen“ (1770) hat er wie in einer Psychoanalyse sein Innerstes schonungslos dargelegt. Es geht ihm um Hinwendung zum Individuum, um das Horchen auf die inneren Empfindungen. Der berühmte Satz von René Descartes (1596–1650) „Ich denke, also bin ich“, könnte im Rousseauschen Sinne umformuliert lauten: „Ich erlebe, also bin ich“.
1762 erscheinen Rousseaus Hauptwerke „Du contrat social ou principes du droit politique“ (Der Gesellschaftsvertrag oder die Grundsätze des Staatsrechts) und „Émile, ou de l’éducation“ (Emile oder über die Erziehung 1975). Bei der Rousseauschen Staats- und Gesellschaftsphilosophie sind Pädagogik und Politik eng verzahnt, daher braucht sie den neuen Menschen, wie ihn Rousseau im „Émile“ beschreibt.
„Alles ist gut, wie es aus den Händen des Schöpfers kommt, alles entartet unter den Händen des Menschen“ (Rousseau 1975, 9), so lautet der berühmte erste Satz des „Émile“. Ziel ist die Erziehung ohne Erzieher, eine Minimalerziehung, bei der nicht der Pädagoge, sondern die eigenen Erfahrungen und die natürliche Strafe, d. h. die negativen Folgen von unpassenden Handlungen, den Menschen bilden. Einfluss auf unsere Erziehung haben „die Natur oder die Dinge oder die Menschen“ (10), wobei der Natur die größte Bedeutung zukommt und die Erziehung durch den Erzieher nur dazu dienen soll, die Erziehung durch die Natur und durch die Dinge zu ermöglichen. Der Erzieher ist lediglich der Anwalt der natürlichen Bedürfnisse des Kindes.
„Leben ist nicht atmen, leben ist handeln“ (15). Als Kind erforscht Émile seine Umwelt und die Natur. Er soll nichts theoretisch erfahren, sondern die Wissenschaften erfinden, wenn er sie braucht. „Anstatt das Kind an Bücher zu fesseln, beschäftige ich es in einer Werkstatt, wo seine Hände zum Nutzen des Geistes arbeiten; es wird Philosoph und glaubt, nur ein Arbeiter zu sein“ (104). Reden, Belehrungen, Bücher lehnt Rousseau ab. Ein Buch allerdings soll Émile doch lesen, denn „wenn man eine Situation erfinden könnte, wo alle natürlichen Bedürfnisse der Menschen sich in einer für den kindlichen Geist begreiflichen Weise darstellen und wo die Mittel, sie zu befriedigen, leicht erkennbar wären, so müsste man seine Einbildungskraft lebhaft damit beschäftigen“.
Das Buch, das diese Situation vorhält und das Rousseaus Erziehungskonzept erfüllt, ist „Robinson Crusoe“ (1719) von Daniel Defoe (1660– 1731). Handlung, Erfahrung und Erlebnis empfiehlt Rousseau auch Lehrern:
„Und denkt daran, dass ihr in allen Fächern mehr durch Handlungen als durch Worte belehren müsst. Denn Kinder vergessen leicht, was sie gesagt haben und was man ihnen gesagt hat, aber nicht, was sie getan haben und was man ihnen tat“ (Rousseau 1975, 80).
In der Aufklärung sollte zur Vernunft erzogen werden. Im Unterricht wird Wissen erworben, das Denken und die Ratio stehen im Mittelpunkt. Rousseau fügt neue Aspekte hinzu: Gefühle, Sinne und Sinnlichkeit, Erlebnisse und die eigene Erfahrung. So klingt seine Definition von Erziehung sehr romantisch. Erzogen ist jener Mensch, „der die Freuden und Leiden dieses Lebens am besten zu ertragen vermag“ (15). Rousseau geht es um Erlebnisse:
„Nicht wer am ältesten wird, hat am längsten gelebt, sondern wer am stärksten erlebt hat. Mancher wird mit hundert Jahren begraben, der bei seiner Geburt gestorben war. Es wäre ein Gewinn gewesen, wenn er als Kind gestorben wäre, wenn er wenigstens bis dahin gelebt hätte“ (16).
Diese Betonung der Gefühle und Emotionen, der Erlebnisse und Erfahrungen führt zum Appell eines handlungsorientierten Lernens: „Empfindungen sind die ersten Bausteine seiner Erkenntnisse. ... Das Kind will alles berühren, alles anfassen. Verhindert diese Unruhe nicht. ... Es lernt Wärme, Kälte, Härte, Weichheit, Schwere, Leichtigkeit der Körper kennen und Größe, Gestalt und alle anderen Eigenschaften beurteilen, indem es sie betrachtet, befühlt, belauscht“ (41).
Merksatz
Rousseau entdeckte die Lebensphase Kindheit. Erlebnisse und Abenteuer in der Natur und die Auseinandersetzung mit ihr sind die treibende erzieherische Kraft. Das unmittelbare und aktive Lernen fördert in optimaler Weise das Kind. Damit hat Rousseau die Grundmauern zum erlebnis- und handlungsorientierten Lernen geschaffen.
Henry David Thoreau oder „Into the Wild“. Sean Penn (*1960) hat vor kurzem den Roman „Into the Wild“ (2007) von Jon Krakauer (*1954) verfilmt, der den tragischen Rückzug eines jungen Menschen in die Natur beschreibt. Sowohl Krakauer und Penn als auch der jugendliche Held dieses Filmes sind inspiriert von Thoreau.
Zwei seiner wichtigsten Bücher „Walden oder das Leben in den Wäldern“ (1854) und „Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat“ (1849) verbinden wie bei Rousseau eine pädagogische Praxis mit einer politischen Weltanschauung. Auf einer Seite befinden sich das Leiden am und der Widerstand gegen den ungerechten Staat auf der anderen die Natur als die große Erzieherin und Lehrmeisterin. Thoreau will ein Exempel statuieren und verlässt seine Heimatstadt Concorde am 4. Juli 1845, dem amerikanischen Unabhängigkeitstag. Zweieinhalb Jahre bewohnt er seine selbst gebaute Hütte am Walden-See. Thoreau verbindet mit diesem Leben in der Wildnis mehrere Ziele. Er will erstens beweisen, dass Unabhängigkeit durch selbst gewählte Armut und einfaches Leben zu erreichen ist. Es braucht weder die kommunistische Utopie noch die kapitalistische Ideologie. Inspiriert von Ralph Waldo Emerson (1803–1882) stellt er sich zweitens auch grundlegende philosophische Fragen nach Freiheit und Fortschritt, dem Verhältnis des Menschen zur Natur, den eigentlichen Bedürfnissen des Menschen, nach Religion und Spiritualität. Drittens ist sein Walden-Aufenthalt auch ein ökonomisches Modell; zweieinhalb Jahre lebt er vom eigenen Anbau und vom Tauschhandel, in einer Welt ohne Geld. Viertens schließlich könnte man diese Zeit des Rückzugs auch als eine Wildnistherapie bezeichnen. Die Einsamkeit soll ihm helfen, den unerwarteten Tod seines Bruders zu verarbeiten. In fast mittelalterlichem Geist bereitet er sich selbst auf das Sterben vor, er will die „ars moriendi“ erlernen.
„Ich zog in den Wald, weil ich den Wunsch hatte, mit Überlegung zu leben, dem eigentlichen, wirklichen Leben näherzutreten, zu sehen, ob ich nicht lernen konnte, was es zu lehren hatte, damit ich nicht, wenn es zum Sterben ginge, einsehen mußte, dass ich nicht gelebt hatte“ (Thoreau 1971, 184).
So wird er zum Zeitkritiker und weltlichen Einsiedler, zum Anarchisten, der den Staat ablehnt, zum Begründer der Idee des zivilen Ungehorsams und stellt für heutige Ökologen, Friedensbewegte und Aussteiger ein Vorbild dar. Seine einsame Hütte am Walden-See schützt ihn vor den Ablenkungen und der Hektik der Stadt. Weit entfernt von der Zivilisation kommt er seiner Wahrheit näher:
„Das meiste von dem, was man unter dem Namen Luxus zusammenfasst, und viele der sogenannten Bequemlichkeiten des Lebens sind nicht nur zu entbehren, sondern geradezu Hindernisse für den Aufstieg des Menschengeschlechts“ (26).
Seine