Die Soziologie Pierre Bourdieus. Boike Rehbein
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Bourdieu stellte, wie wir gesehen haben, nicht beliebige Fragen. Ihn interessierte das Leiden der Menschen in der Kolonialgesellschaft. Das moralische Elend der Menschen schien ihm dabei noch gravierender als das materielle Elend (2003a: 26).8 Auch wenn er sich diesem Leiden auf eine innovative, eigensinnige Weise näherte, war er dabei alles andere als naiv. Die Frage nach dem Kapitalismus stellte er in enger Auseinandersetzung mit Max Weber. »Es war eine webersche Frage, die ich allerdings in marxschen Begriffen stellte …« (Bourdieu, zitiert in Schultheis 2000: 166) Webers Antwort, dass die ethisch-religiöse Orientierung eine wichtige Rolle bei der Entstehung eines kapitalistischen Kalküls spiele, verwarf Bourdieu rasch. Algerien habe viel mit nicht-islamischen Gesellschaften gemeinsam, der Islam sei weder Ursache noch Folge der Sozialstruktur (1958: 96). Und die Sozialstruktur fasste Bourdieu in marxschen Begriffen.
Aus heutiger Sicht erscheint der Verweis auf Marx vielleicht etwas irreführend, denn Ausführungen über »Das Kapital« – also Begriffe wie Wert, Arbeitszeit, Profit – sucht man in Bourdieus Frühschriften vergeblich. Mit dem Verweis auf Marx konnte nur der Klassenkampf gemeint sein. Während des algerischen Kolonialkriegs bis weit in die Siebzigerjahre hinein war die Frage nach der Revolution das beherrschende Thema der politischen Linken. Und das war keine Spinnerei Pariser Intellektueller, sondern rund um die Welt Realität. Nachdem das geographisch größte Land 1917 eine sozialistische Revolution erlebt hatte, folgte 1949 mit China das bevölkerungsreichste Land. Die französische Kolonie Indochina verlor 1954 Nordvietnam, während die Vereinigten Staaten die Teilung Koreas akzeptieren mussten. Überall in der »Dritten Welt« entstanden sozialistische Befreiungsbewegungen. Die USA, die 1945 Frankreich noch dafür getadelt hatten, seine Kolonialherrschaft wiederherstellen zu wollen, stellten sich wenig später auf die Seite der Kolonialherren. Nun hieß es für sie, Sozialismus oder Freiheit (Kapitalismus). Für die meisten Pariser Intellektuellen war die Frage längst beantwortet. Ihre Fragen lauteten, wo die Revolution stattfinden sollte, ob sie dem chinesischen oder dem sowjetischen Vorbild zu folgen hätte, ob die Bauern oder die Arbeiter sie vollziehen würden.
Bourdieu konnte sich dem politischen Diskurs, der ja reale Grundlagen hatte, nicht entziehen. Er wollte nur nicht intuitiv Partei ergreifen, sondern die Fragen wissenschaftlich beantworten: »man musste die Frage beantworten, ob die Bauern oder das Proletariat die revolutionäre Klasse sind. Ich habe versucht, diese fast metaphysischen Fragen in wissenschaftliche Begriffe zu übersetzen.« (2003a: 44) Auch in dieser Hinsicht stand Bourdieu quer zu allen Fronten. Die »fast metaphysischen Fragen« mussten in Paris am Schreibtisch gelöst werden, während sich echte Wissenschaftler mit allem beschäftigten, nur nicht mit der Revolution. Wenn man sich mit der Entstehung eines kapitalistischen Denkens beschäftigte, so war man Anhänger Max Webers, und wenn es um den Klassenkampf ging, musste man sich hinter Marx stellen. Und in Algerien stand man als Franzose auf der falschen Seite. Bourdieu missachtete diese eindeutigen Zuordnungen. Wenn Bourdieu Webers Frage »in marxschen Begriffen stellte«, so heißt das, dass er eine kapitalistische Wirtschaftsethik nicht in der Religion suchte, sondern in den Klassenkämpfen. Umgekehrt setzte er keineswegs die marxsche Lehre der zwei Klassen voraus, sondern suchte die Klassen empirisch zu bestimmen, und zwar nicht nur ökonomisch.
Zu diesem Zweck ergänzte er die Fragebögen der großen statistischen Untersuchung über die algerische Bevölkerung um Fragen nach revolutionären Projekten. »Dabei habe ich festgestellt, dass das Subproletariat zwischen einem großen Veränderungswillen und einer fatalistischen Hinnahme der Welt, so wie sie ist, hin- und herschwankt.« (2003a: 44) Die Erkenntnisse über das algerische Subproletariat hat Bourdieu mit seiner Ethnologie der Kabylen und den Einsichten in die Entstehung des Kapitalismus zu einer vorläufigen Beschreibung der Sozialstruktur Algeriens insgesamt verknüpft, deren Grundzüge oben erwähnt wurden. Im Folgenden sollen die Ergebnisse noch etwas detaillierter betrachtet werden. Sie können unter drei Schlagworten zusammengefasst werden: Zerstörung der ländlichen Strukturen, Perspektivlosigkeit (der Landflüchtigen und der Subproletarier) und Folgen des Kolonialsystems.
Die Zerstörung der ländlichen Strukturen kann nicht auf eine Ursache zurückgeführt werden. Viele Aspekte des Kolonialsystems griffen ineinander, die zusammen die Struktur einer Konfiguration oder eines Kaleidoskops bildeten (1958: 82). Bourdieu interessierte sich wenig für die Beschreibung der gesamten Konfiguration, sondern konzentrierte sich – wie oben ausgeführt – auf die Entstehung des Kapitalismus und das Klassenbewusstsein. Vor diesem Hintergrund war die Zerstörung ländlicher Strukturen insofern interessant, als sie Menschen aus den traditionalen Netzen befreite und zum Eintritt in kapitalistische Strukturen nötigte. Gleichsam nebenbei beobachtete Bourdieu, wie sich die »traditionale« Lebensweise auf dem Land änderte. Er erkannte beispielsweise, dass die Verwandlung von (zuvor gemeinschaftlichem) Grundbesitz in Eigentum die ländliche Sozialstruktur fundamental veränderte. Die Menschen gerieten in Versuchung, ihr Land, das jetzt ihr Eigentum war, unter dem Marktwert zu verschleudern, um Mittel für den augenblicklichen Konsum zu haben (2000c: 39). Und ehe sie sich’s versahen, standen sie ohne Land und ohne Geld da. Es bleiben die Auswege des – traditionell verpönten – Kredits und der Lohnarbeit. Bourdieu betrachtete die Registrierung des Grundbesitzes als eine Strategie der Kolonialverwaltung, das Land auf legalem Weg in den Besitz der Weißen zu bringen, die über die finanziellen Mittel verfügten, es zu erwerben (1964a: 16).9
Neben dem »Push-Factor« der legalen Enteignung wirkte Bourdieu zufolge der »Pull-Factor« des Konsums auf die jüngere Landbevölkerung (1963: 371f). Dieser wurde noch verstärkt durch die westliche Bildung, die ältere Algerier nicht hatten. Dadurch wurde die traditionelle Hierarchie innerhalb der Familie und damit innerhalb der Gemeinschaft aufgeweicht (2000c: 80). Die Autorität und das Wissen der Älteren verloren an Wert. Das galt auch für die soziale Position der Bauern insgesamt, die über die neue Welt nichts wussten (1964a: 92f). Die Stellung der Frau verbesserte sich durch die Aufweichung nicht unbedingt, weil ihre wirtschaftliche Abhängigkeit zunahm (2000c: 81f). In traditionalen Gemeinschaften mussten Frauen keinen Schleier tragen, weil die Bereiche von Mann und Frau sozial klar getrennt waren. Da die Trennung in der Welt der Lohnarbeit und der Stadt nicht mehr aufrecht zu erhalten war, mussten die Frauen nun Schleier tragen oder ganz zu Hause bleiben, um der geltenden Deutung des Islam zu entsprechen (1964a: 132ff).
Schließlich wurden die ländlichen Strukturen durch den Krieg zerstört. Bis 1960 war insgesamt etwa ein Viertel der algerischen Bevölkerung umgesiedelt worden (1964a: 13). Ferner verursachten die Kriegshandlungen auch physische Zerstörung, verwandelten Bauern in Soldaten und verlangten nach neuen Organisationsformen. Die meisten Umgesiedelten fanden sich in Städten wieder, wo sie neben Angehörigen anderer Gemeinschaften und Clans wohnten, mit denen sie kein soziales Netz verband (1963).
Bei den Menschen, die von ihrer traditionalen Gemeinschaft abgetrennt waren, ohne in neue Strukturen eingebunden zu werden, diagnostizierte Bourdieu eine objektive und subjektive Perspektivlosigkeit. Sie ist es, die er als »moralisches Elend« bezeichnete (siehe oben). Die in prekären Situationen lebenden Stadtbewohner (die Bourdieu als »Subproletariat« klassifizierte) waren am stärksten davon betroffen. Sie hatten weder objektive noch subjektive Möglichkeiten, ihre eigene Zukunft zu gestalten. Traditionales Handeln war entwertet und den Bedingungen nicht angepasst, für kapitalistisches Handeln fehlten die Mittel und die Kenntnisse (1963, insbesondere 347–361).10 »Traditionalismus der Hoffnungslosigkeit und Mangel an Lebensentwürfen sind zwei Gesichter einer einzigen Wirklichkeit.« (2000c: 85) Als virtuellen Fluchtpunkt des Daseins ermittelte Bourdieu die Arbeitslosigkeit (2000c: 95). Das Subproletariat war nicht an einem Aufstieg oder an einer Arbeit orientiert, sondern an der Furcht vor Arbeitslosigkeit. Die Wünsche und Hoffnungen der Menschen aber, die keine realen Möglichkeiten hatten, erwiesen sich in Befragungen als völlig irreal (2000c: 87ff). Erst bei steigendem Einkommen waren sie erfüllbar. Diese Diagnose ist leider immer noch höchst aktuell.
Die Folgen der Konfrontation von kapitalistischer und traditionaler