Der Weg der Weisheit. Richard Rohr
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Einer der Schlüssel zur Weisheit besteht darin, seine eigenen Zwiespältigkeiten zu erkennen, seine eigenen süchtigen Abhängigkeiten und Fixierungen sowie den Umstand, dass man aus irgendeinem Grund viele Dinge einfach nicht wahrnehmen will. Solange man die eigenen Denk- und Verhaltensmuster nicht durchschaut (das meint Kontemplation in ihrer Frühphase), ist man nicht in der Lage, das zu sehen, was man nicht sieht. Kein Wunder also, dass Teresa von Ávila sagte, Selbsterkenntnis sei das erste und unerlässliche Eingangstor zur „Seelenburg“. Ohne ein selbstkritisches Bewusstsein dafür, wie eng die eigenen Perspektiven sind, besteht kaum Aussicht, dass jemand wirklich Erkenntnis oder bleibende Weisheit erlangt.
Die Postmoderne zerschlägt aus Enttäuschung in einem wütenden Rundumschlag alles, was ihr im Weg steht, um sich den drei beherrschenden Maximen der Moderne (siehe unten), die unser Zeitalter geprägt hat, zu widersetzen. (Wie wir noch sehen werden, hat dieses Zerschlagen, deconstruction, nicht nur negative, sondern auch positive Auswirkungen. Ohne ein gewisses Maß an Dekonstruktion wird alles zum Götzen. Die Propheten waren daher „religiöse Dekonstruktivisten“.)
Erstens glaubte die Moderne, die Wirklichkeit beinhalte eine feste Ordnung. Das postmoderne Denken behauptet, es gebe überhaupt keine Ordnung. Paradoxerweise nähert sich die Postmoderne sowohl dem Nihilismus als auch der Mystik; denn sie vertritt die Auffassung, entweder sei niemand oder es sei jemand verantwortlich. Das Einzige, was wir inzwischen sicher wissen, ist, dass unser Denken und unser Verstand es jedenfalls nicht sind! Von daher erklärt sich das Neuerstehen von Spiritualitäten in allen nur erdenklichen Formen. Die alten Kirchen bekommen unversehens eine Menge Konkurrenz, während sie eine lange Zeit hindurch über ein Monopol verfügen konnten.
Ich finde es bemerkenswert, dass im Englischen die Priesterweihe als Holy Orders bezeichnet wird, also wörtlich als „heilige Ordnungen“. Diese Bezeichnung dürfte verraten, was vom Priestertum im Grunde erwartet wird: Ordnung, ordnende Leitlinien, Grenzvorgaben, Kontrolle, Klarheit. Das sind an sich keine schlechten, vielmehr dringend notwendige Eigenschaften, und das Verlangen nach ihnen könnte sogar erklären, warum sich die Kirche mit den Grundvorstellungen der Moderne wohler fühlte als mit der „heiligen Unordnung“, die sich jetzt zeigt.
Das Kreuz ist eindeutig eine Ausrufung der Unordnung im Herzen der Wirklichkeit. Echtes Christentum glaubte noch nie an eine perfekte Ordnung oder an ein totales Chaos, sondern an eine mit Widersprüchen behaftete Wirklichkeit. Zudem erklärte es diese eine und einzige Welt zur Welt Gottes. Jesus wurde am „Zusammenprall der Gegensätze“ gekreuzigt.
Zweitens dachte die Moderne, die Wirklichkeit lasse sich mittels der menschlichen Vernunft erkennen; das Naturgeschehen sei voraussagbar und daher zu einem gewissen Grad beherrschbar. Doch die Quantenphysik sagt, dass sich mit den Begriffen der „Indetermination“, der „Probabilität“, mit „Chaostheorien“ und Heisenbergs „Unschärfeprinzip“ vermutlich zutreffender das letzte Geheimnis der Wirklichkeit bezeichnen lasse als mit den Begriffen der klassischen Physik.
Das bedeutet für den modernen Geist eine gewaltige Demütigung. Die Physik hat entdeckt, dass man sowohl im Kleinsten (bei den Atompartikeln) als auch im Größten (den Galaxien und Schwarzen Löchern) unvermeidlich auf das Geheimnis stößt! Alles wirkt erkennbar, wird aber dann doch wieder unerkennbar, wenn man an die Ränder gelangt. Die Beherrschung muss schließlich dem Geheimnis Platz machen; statt Festhalten ist Loslassen angesagt. Plötzlich haben wir nichts mehr zu sagen. Manche vermerken, die Physiker mutierten zu Mystikern und die Priester zu Psychologen – und interessanterweise wollen beide die nicht-rationalen Aktionen der Menschen und den tragischen Charakter vieler Ereignisse zu erhellen versuchen.
Der kleine Wissenschaftler bleibt in der Mitte und geht weiterhin davon aus, dass er in einem völlig kohärenten System lebt. Die großen Wissenschaftler wie Albert Einstein, der „Mann des 20. Jahrhunderts“, entdecken hingegen wieder das Geheimnis. Einstein sagte: „Das Schönste, was wir erleben können, ist das Geheimnisvolle.“ Er hatte nie die Überheblichkeit zu denken, er habe seine „einheitliche Feldtheorie“ vollständig gefunden, also das endgültige Paradigma, mit dem sich alle Kräfte im Universum erklären ließen. Seine bescheidene Aussage mutet an wie der Glaubensakt eines großen Geistes und großen Naturwissenschaftlers. Er erinnert mich an Dantes Bild für den Gipfel des Paradieses: eine „weiße Rose“ – in äußerster Einfachheit und Schönheit. Alles passt zusammen, alles hält zusammen. Dieses Wissen, dass alles eine Einheit in Vielfalt ist, ist uns verloren gegangen.
Reife Religion weiß, dass der Mensch sich bestenfalls über die letzte Wirklichkeit Metaphern, Symbole, Bilder erhoffen kann. Hier auf Erden sind nicht eigentlich wir die Erkennenden, vielmehr werden wir erkannt; nicht wir verknüpfen alles, vielmehr werden wir verknüpft: Nicht wir schaffen die großen Zusammenhänge, sondern wir werden in die Zusammenhänge einbezogen. Dann bleibt nur noch niederzuknien und den heiligen Boden zu küssen, und der vermeintlich autonome Geist ließe so von seiner Tyrannei ab.
So erschreckend es zunächst klingen mag, der Zerfall überkommener Denkstrukturen könnte uns durchaus wieder zu jener Demut und Einfachheit zurückführen, derer es zur Begegnung mit Gott bedarf. Doch müssen wir auch sagen, dass die Kirchen, sicherlich die römische Kirche, den Gott der Bibel vernachlässigt und sich mehr mit einem Gott der Philosophen verbunden haben, mit dem wir jedoch angesichts seiner „Besonderheit“, seiner Vorlieben und willkürlichen Entscheidungen sowie seiner absoluten Freiheit größte Schwierigkeiten haben. – Die Moderne bescherte uns die Vorhersehbarkeit und Voraussagbarkeit, mit denen wir uns durchaus wohlfühlten; jetzt, in der Postmoderne, hat wieder ein ganz Anderer das Steuer in der Hand, und wir müssen uns (von der Moderne her gesehen) in die Tragik und (neuerdings) zugleich höchste Geschenkhaftigkeit ergeben. Das kommt der Bibel viel näher, auch wenn es mehr Angst macht.
Drittens glaubte der moderne Geist, die Erfüllung des Menschen bestehe vor allem darin, alle Gesetze der Wissenschaft und Natur zu entdecken und genau kennenzulernen. Wir sollten sie – wo immer möglich – nutzen und uns ihnen nur fügen, wo wir sie nicht durchschauen oder ändern können. Um weitere Fortschritte zu machen, mussten wir daher vor allem unser wissenschaftliches Wissen ausbauen. Mochte es sich nun um medizinisches Wissen oder um die Erforschung des Weltraums handeln – mit zunehmendem Wissen würden wir jedenfalls nach und nach alle Schwierigkeiten in den Griff bekommen.
Jeder vor 1960 Geborene wurde von dieser Denkungsart stark geprägt. Aber heute sind wir von ihr nicht mehr so fraglos überzeugt und glauben auch nicht mehr, dass die traditionelle Bildung allein dem menschlichen Wachstumsprozess gerecht wird. Wir sind uns zudem nicht mehr so sicher, ob wirklich alles Naturgeschehen vorhersehbar ist und der Mensch seine Erfüllung darin findet, alle Gesetze der Natur genau zu kennen und das Universum so weit wie möglich in den Griff zu bekommen. Wer noch mit der Moderne denkt, möge sich nur einmal überlegen, wie und warum seit einiger Zeit alle möglichen Formen von Aberglaube, Okkultismus und Magie Zulauf erhalten, wie und warum UFO-Theorien und alle möglichen Arten von New-Age-Vorstellungen und schamanischen Reisen boomen und die Felder des Unbewussten, Irrationalen, Nichtrationalen, Symbolischen und auch des „Spirituellen“ Hochkonjunktur haben. Selbst sehr gebildete Menschen neigen ihnen zu. Die Götter von Körper, Gefühl und Erlebnishunger verlangen nach Gehör und machen dem Gott der Vernunft das Feld streitig.
Darin liegen eine negative und auch eine gute Botschaft. Es macht Angst, in einer Zeit des Übergangs zu leben: Sie fällt auseinander; man weiß nicht, was sie alles mit sich bringt; sie bietet nichts Zusammenhängendes; alles wird eher