Keine Macht der Moral!. Norbert Bolz
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Natürlich gab es die antipolitische Politik des Liebesakosmismus schon immer; man kann sie zumindest bis zum Urchristentum zurückverfolgen: Damals hat die absolute Ethik des Evangeliums in der Bergpredigt gefordert, dem Übel nicht mit Gewalt zu widerstehen. Heute orchestriert dieser Liebesakosmismus seinen Kampf gegen die Staatsraison mit dem Universalismus der Menschenrechte, mit Nächstenliebe als Fernstenliebe und dem Traum von der One World, dem Weltstaat, der kein Außen mehr kennt. Für Weber und Schmitt hingegen ist es selbstverständlich, dass die Politik die Moral auf Distanz halten muss. Deshalb halten sie dem Gott der Liebe den Dämon der Politik entgegen und der Feindesliebe die Unterscheidung von Freund und Feind. Webers Kritik der Gesinnungsethiker ist heute genauso aktuell wie Schmitts Kritik der indirekten Gewalten – nur dass sich die Gesinnungsethiker heute hinter dem Begriff Verantwortung verstecken und die indirekten Gewalten als Protestbewegungen und NGOs auftreten. Die indirekten Gewalten geben sich den Anschein des Unpolitischen, um den Staat zur Durchsetzung ihrer Interessen zu nutzen. Niklas Luhmann nennt sie »sich selbst ermächtigende ›parademokratische‹ Repräsentanten«.
Der Staat kommt dieser Entwicklung entgegen. Seine spezifisch europäische Geschichte beginnt bei Hobbes mit protection and obedience, also Schutz und Gehorsam, und endet heute mit overprotection im Daseinsfürsorgestaat – nudge heißt das einschlägige Stichwort: der Schubser in die richtige Richtung. Früher hat der Staat die Menschen vor Gefahren geschützt; heute werden wir, so die schöne Formulierung von W. van den Daele, vor der »Gefahr, Gefahren nicht zu erkennen«, geschützt. Genau wie die sozialistischen Emanzipationsprogramme neigt auch eine Politik, die die Menschen vor sich selbst schützen will, zum Paternalismus und behandelt sie als unmündig.
Neben den ökologischen Sorgen und den wohlfahrtsstaatlichen Ansprüchen gibt es noch einen dritten Faktor der Remoralisierung unserer Politik. Mit dem Ende des Ersten Weltkriegs setzt ein politischer Moralismus ein, der durch seine Praxis der Tribunalisierung radikal mit dem neuzeitlichen Begriff des Politischen bricht. Nun gibt es wieder gerechte Kriege und ungerechte Feinde, die eigentlich schon als Verbrecher behandelt werden. Mit anderen Worten: Wenn man den Krieg aufgrund seines unvergleichlichen Ausmaßes nicht mehr als politische Möglichkeit akzeptieren kann, setzt die Moralisierung durch einen diskriminierenden Kriegsbegriff ein. Das impliziert auch, dass Staatsräson und Realpolitik ein negatives Vorzeichen bekommen. Das gilt bis zur Gegenwart.
Wo ist unser historischer Ort? Hegel sah seine Gegenwart am Ende der Geschichte angelangt. Der Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit hat im Staat als der Wirklichkeit des Vernünftigen sein Ziel erreicht. Doch schon Nietzsche macht die Gegenrechnung auf: Wir leben im Zeitalter des »letzten Menschen«, dem die Obrigkeit ein »Gehäuse der Hörigkeit« präpariert hat, dessen schicksalhafte Bürokratie dann das Lebensthema Max Webers wurde. Die Rechte spricht von »sekundären Systemen« (Hans Freyer) und kultureller Kristallisation (Arnold Gehlen), die Linke nennt es »verwaltete Welt« (Theodor Adorno). Von Heidegger philosophisch überhöht heißt das Gehäuse der Hörigkeit »Gestell«, und Helmuth Schelsky spricht nüchterner vom technischen Staat. Es ist aber leicht zu erkennen, dass dies nur verschiedene Namen desselben Sachverhalts sind: Nichts geht mehr – wir leben im Posthistoire.
Max Weber und Carl Schmitt hoffen noch auf die Sprengung dieses stahlharten Gehäuses. Ein Schlüsselbegriff Webers lautet Außeralltäglichkeit, und die schreibt er nicht nur dem prinzipiell nicht institutionalisierbaren Charisma des wahren Führers, sondern auch der intimen Erfahrung erotischer Exaltation zu. Dem entspricht bei Schmitt die Faszination durch den Ausnahmezustand. So heißt es in seiner Politischen Theologie: »In der Ausnahme durchbricht die Kraft des wirklichen Lebens die Kruste einer in Wiederholung erstarrten Mechanik.« Man mag das heute als romantische oder gefährliche Nostalgie einschätzen – anschlussfähig ist es nicht.
Wir müssen anders ansetzen, nämlich bei den Prozessen der Entpolitisierung, Entdifferenzierung und Remoralisierung – also beim Kampf gegen das eigentlich Politische, das schon in der Definition der Situation steckt: Was ist das Problem? Wie ist die Lage? Um diese Fragen zu beantworten, kann die Politik nicht auf das Wissen warten. Das bedeutet aber, dass man politische Urteile nicht beweisen, sondern nur bewähren kann. Denn es gibt keine Tatsachen im Politischen. Und was man in der Politik als Fakten behandelt, sind immer Konstruktionen von interessierter Seite. Deshalb hat Max Weber Augenmaß und Verantwortung gefordert. Das sind Grundbegriffe einer Kritik der politischen Urteilskraft.
Die Geschichte der Bundesrepublik war bis zur Jahrtausendwende durch einen verantwortungsbewussten Reformismus geprägt. Davon kann heute nicht mehr die Rede sein. Nicht nur die Protestbewegungen, sondern auch öffentlichrechtliche Medien und Gesinnungspolitiker wollen den gordischen Knoten gesellschaftlicher Komplexität mit Moral durchhauen. So kollabiert die Differenz zwischen Politik und Moral im politischen Moralismus von heute. Das ist der Grund für den Niedergang der Debattenkultur und die Ohnmacht der Argumente. Denn das Moralisieren macht jede Verständigung unmöglich.
Man muss kein Dialektiker sein, um zu erkennen, dass die Moralisierung der Politik eine Politisierung der Moral impliziert. Diesen Prozess der Entdifferenzierung hat der Philosoph Hermann Lübbe so charakterisiert: »Die Moral, die ihren Unterschied von der Politik nicht erträgt und ihn aufzuheben versucht, zerstört damit lediglich jene Schranken, jenseits derer die Politik einen totalen Charakter annimmt.« Im Klartext heißt das: Der politisierten Moral entspricht eine totalitäre Politik.
Das Syndrom des politischen Moralismus lässt sich auf die Formel bringen: Je schwächer der gesunde Menschenverstand, desto stärker die Gesinnung. Und wo Gefühle statt Argumente die Debatten bestimmen, kommt es ganz unvermeidlich zur Verteufelung der Andersdenkenden. Alle Sachfragen geraten in den Sog moralistischer Polemik, und so wird heute ganz selbstverständlich der politische Gegner als unwählbar behandelt. Im Extremfall, der leider immer häufiger eintritt, sieht der politische Moralist im politischen Gegner einen Unmenschen. So wird die Exkommunikation wieder aktuell – als sozialer Boykott.
Die politische Szene, nicht nur in Deutschland, aber hier vor allem, wird zunehmend von der bornierten Gewissheit und Selbstgerechtigkeit eines von Angst legitimierten moralischen Urteils geprägt, in dem immer auch die Sanktion der Missachtung des Andersdenkenden spürbar ist. Wenn Politik auf Moral reduziert wird, disqualifiziert man den politischen Gegner als unmoralisch, und das heißt, man grenzt ihn aus der Politik aus. Der Soziologe Niklas Luhmann bemerkt dazu: »Wer sich moralisch engagiert hat, kann schwer nachgeben, weil seine Selbstachtung auf dem Spiel steht.« So wird das Polemische der Politik von der Moral ins Inquisitorische gesteigert. Es geht nicht mehr um die Sache, sondern um Identität.
Die antike Kontrastfolie
Den antiken Begriff »Polis« lässt man am besten unübersetzt. Er meint weder den Staat im modernen Sinne noch die Nation. Und auch Übersetzungen mit »Vaterland« oder »bürgerliche Gesellschaft« verdecken mehr, als sie erhellen. Oswald Spengler hat die Polis einmal als das »Ideal des Staates als Statue« bezeichnet; das sollte den homogenen, übersichtlichen, aber partikularistischen Charakter dieser Gemeinschaftsform hervorheben: nach innen zunftartig geschlossen, nach außen im permanenten Kampf aller gegen alle. Für die Bürger der Polis sind Religion und Politik, Recht und Moral noch nicht voneinander getrennt. Dem entspricht, dass die Bürgerschaft nicht nur in der Polis lebt, sondern selbst ihre Verfassung ist. Nicht nur in der Polis leben, sondern sie sein – das hat Nietzsche das »Stadt-sein« der antiken Griechen genannt. Jeder Bürger ist hier repräsentativ für das Ganze.