Boëtius von Orlamünde. Ernst Weiß

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Boëtius von Orlamünde - Ernst Weiß

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Freuden so unschuldig, daß der Beichtvater, der sie jeden Donnerstag erfährt, bloß die geringste Buße dafür ansetzt und meinem Versprechen, diese Sünden nie mehr zu begehen, ohne weiteres Glauben schenkt. Zwischen mir und meinen Kameraden herrscht eine Sympathie von solcher Reinheit, daß ich, wenn ich Lehrerstelle vertreten muß, ganz vergesse, daß der Junge, der nun mit dem bläulich blinkenden Florett auf dem schwarzen Teppich im Fechtzimmer vor mir »die Auslage hält« und eine naive Defensive markiert, oder der andere, der in der Reitschule neben dem angeschirrten, aber bügel- und zügellosen Gaul steht und auf mein Zeichen wartet, um aufzuspringen – ja, ich vergesse ganz, daß ich diesen Knaben kenne, daß ich nachts in seiner Nähe geschlafen habe, daß ich weiß, wie seine Lippen schmecken, und daß ich Zigaretten, noch warm von seinem Munde, geraucht habe, ich kenne am Tage keinen Titurel, ich bin kein Tyl mehr, ich tue meine Pflicht. Man hätte mir den Platz unter den Jüngeren ruhig noch dieses Jahr lassen können. Doch der alte, leibeigene Meister wollte es nicht. Ihm fügt sich alles, und dabei sind seine Blicke nicht gerade, sein Blut ist nicht adlig, seine Hände sind auch nicht rein, ich weiß alles von ihm, er nichts von mir.

      Ich erzählte von der Nacht, von meinem schlechten Schlaf. Nicht die Träume einer sehnsuchtskranken Jugend sind es, die mich wecken, die mich mein Ohr an die Tür des benachbarten Schlafsaales pressen lassen, woraus die sanften ziehenden Atemzüge der »Fünften« hervorklingen, nicht mit dem Liebeshunger der Jugend horche ich nach ihren allzu leise geführten Gesprächen, nicht aus Begierde nach Zigaretten oder Tabak schmiege ich meinen geöffneten Mund an die Spalten der Tür, um den Zigarettenrauch einzuatmen, der aus den Fugen hervorquillt – was mich bewegt, ist etwas ganz anderes. Etwas anderes läßt mich aufstehen und mich mit emporgezogenen Schultern an einen und dann an den anderen der unnützen hohen Sekretäre pressen. Es ist ein Gefühl, das man bei einem Siebzehnjährigen nicht vermuten wird. Aber wird man glauben, daß dieses Gefühl, das ich zu bald nur nennen muß, in meiner Seele gearbeitet hat, seitdem sie Seele war, seitdem ich mich überhaupt erinnern kann? Ich muß es nennen – aber selbst vor dem Namen habe ich Angst. Todesfurcht ist es.

      Am nächsten Morgen verlasse ich mein Zimmer, nachdem ich mich, ungeschickt genug, an einem der Sekretäre, der zu einem Waschtisch umgewandelt ist, gewaschen habe und nachdem ich den letzten, schon mehrere Monate alten Brief meines Vaters wieder in der Lade des Nachttisches verborgen habe – denn es gibt keinen anderen Tisch in diesem Raum, auch keinen Wandschrank, wie ihn die anderen Schüler haben –, dann trete ich heraus und stolpere auf der Schwelle über einen weichen, aber zähen Gegenstand. Ich hebe ihn auf, vielleicht ist es ein in Seidenpapier eingewickeltes Butterbrot, das einer der Knaben verloren hat, obwohl ich auch nicht wüßte, wie – aber es sind meine Handschuhe, die ich gestern bei der Wagenfahrt in ein Rübenfeld geworfen habe. Sie sind gesäubert, wenn auch nicht vollkommen; sind trocken; man hat die Erde von den Nähten entfernt, sie sind tragbar, wenn man auch keine besondere Ehre mit ihnen einlegen kann. Man hat mir mit dem Wiedergeben einen Dienst erwiesen, ich kann es nicht leugnen, und ich freue mich, daß ich sie wiederhabe. Aber ist nicht mein Titurel schwerkrank ins Lazarett gebracht worden? Hat man nicht an seinem Bette gewacht? Warum hat man ihn nicht, wenn er schon so töricht, so fiebrig und knabenhaft unbesonnen war, daran gehindert, das Bett zu verlassen, den ganzen langen Weg am See vorbei in der regnerischen Nacht zu durchmessen? Der Regen goß vom Himmel, ich weiß es, denn ich hatte nachts den Kopf mehrmals aus dem Fenster gebeugt. – Mich, den Gesunden, schauerte es, er aber hat die Angst vor den Folgen, das Grauen vor dem T. so weit überwunden, daß er sich aus einem Gefühl der Ritterlichkeit heraus, ein echter Titurel, auf den weiten Weg gemacht, sich durch die Rübenfelder hindurchgequält hat, bis er die Handschuhe wiederfand. Ich sehe es, es sind die meinen, die Anfangsbuchstaben B. v. O. sind mit verblaßter, violettrötlicher Tinte an der Innenseite vermerkt. Obgleich das Handschuhpaar oft genug von mir mit venezianischer Seife gewaschen worden ist, wird diese Marke nie ganz verlöschen. Ich weiß nicht mehr, wann sie eingezeichnet worden ist.

      Aber eingezeichnet bleibt sie wie das Gefühl von Tod in meiner Seele. Man weiß nun, was es ist.

      Kapitel

      5

      Ein Leben, das ohne Aufhören unter der Gewalt des T. steht, ist so gut wie gar kein Leben. Man will sich davon befreien. Man will den T. vergessen, will arbeiten, muß man doch auch arbeiten, da das Leben Forderungen hat, denen sich alle fügen, auch die Orlamündes. Man kann, wenn man erfolgreich ist, für sich, für andere sorgen. Man hat seine Freunde, die nahe sind, die unfern in ihrem hohen, weiten Schlafgemache atmen, man hat seine Eltern, an die man nur mit Sehnsucht, Mitleid und mit einem kaum zu beschreibenden Gefühl denken kann: dieses Gefühl ist dem ähnlich, das einer hat, wenn er im Winter einmal spätabends heimkehrt und sich behaglich vor dem Schlafengehen auskleidet und sich nun, von eben diesem unbeschreiblichen Gefühl durchflutet, im wieder dunkel gemachten Zimmer mit dem Rücken an den warmen Ofen lehnt. Die Wärme hebt sich geradezu zauberhaft an dem bloßen Nacken neben dem breiten Kragen des Nachthemdes empor. Jetzt hat man die Empfindung von der Länge, von der Endlosigkeit des Daseins. Das ist wunderbarer als alles andere. Man atmet so leise, daß es ist, als atme man nicht. Und wenn der Ofen nun aufflackert und stärkere Wärme ausstrahlt, ist es, als decke er den Knaben, der vor ihm steht, von den Füßen bis zum Halse mit schweren, von dem Pferdeleibe noch warmen Decken zu.

      So wäre es mir, wenn ich bei meinen Eltern immer leben dürfte, wenn ich an demselben Tische essen dürfte wie sie, wenn ich neben meinem Vater in dem großen Volkspark von Brüssel ausreiten dürfte. Unsere Pferde würden im gleichen Schritt gehen, die Köpfe nicken im Takt, die Bauchriemen und Sattelgurte knarren. Von der Lohe, womit die Wege bedeckt sind, steigt, als stießen Maulwürfe darunter die Köpfe durch, feiner, brauner Staub auf. Die etwas blassen, hängenden Lippen des Herrn (man lasse mich meinen Vater den Herrn nennen, ich möchte ihn zu gern als Großen sehen; mich klein neben ihm zu wissen tut mir wohl), die mit einem blassen Rot beschlagenen Lippen des Herrn feuchten sich, da seine Zunge in dem seltenen Genusse des Reitens sich über seine starken, weit auseinanderstehenden Zähne vordrängt. Weder er noch sein Sohn spricht ein Wort. Das Ende der pfeilgeraden Allee ist unsern Blicken nicht erreichbar. Früh ist es am Morgen. Es wäre die Morgenarbeit unserer Pferde. Abgesehen von dem hohen, unbeschreiblichen Genusse, hätten wir noch die Befriedigung, eine Arbeit zu leisten, etwas Nützliches zu tun, das auch zu unserm Namen und unserer Abstammung paßt. Gibt es einen bescheideneren Wunsch? Kann jemand das »Geschenk des Lebens« mit tieferer Dankbarkeit entgegennehmen? Sieht jemand nüchterner die Notwendigkeiten und Überflüssigkeiten des sozialen Daseins, wenn er als höchsten Wunsch eine einfache Stunde Reitens mit seinem Vater, dem verarmten, stellungslosen Fürsten, in der Allee eines öffentlichen Volksparkes ersehnt? Aber der ungeheure Wert des Zusammenseins mit meinem Vater besteht nur für mich. Was ich von dieser Stunde mit ihm erhoffe (vergeblich, ich sage es gleich, es ist vorbei), das ist nicht mehr als das, was alle anderen Söhne immer besitzen und nie würdigen. Ich war Waise, als mein Vater noch lebte.

      Der seligste Zustand ist der des Tieres, vorausgesetzt, daß Steine und Lüfte nicht noch beneidenswerter sind. Doch schon das Tier, in dessen Seele man sich, wenn auch schwer, hineinversetzen kann, weiß nichts vom T., bevor es stirbt. Ich liebe Pferde, ich liebe Tiere über alles, aber etwas von dieser Liebe ist Neid. Die Nähe eines Tieres, besonders eines schönen, großen, starken, tut mir wohl, ich sonne mich in seiner Nähe. Wenn ich die Augen des Tieres mit meinen Blicken erfasse, möchte ich das kleine Spiegelbild werden in der eckigen und wie mit verknittertem braunem Pergament umschlossenen Pupille des Pferdes oder gar als ein winziger Orlamünde leben in dem atlasglänzenden Augenstern einer Katze, der sich ausweitet und zusammenzieht im Lichte, als wäre es eine Brust, die Licht einatmet und Licht ausatmet.

      So tief möchte ich in dem Dasein eines Tieres untergehen und mich da auflösen, wo es keinen T. mehr gibt.

      Für das Tier ist das Leben etwas Ungeheures. Es begreift den T. gar nicht, darin bleibt es ewig Kind, auch das vergrämteste, das gequälteste. Selbst der müdeste Droschkengaul, der so niedrig geworden ist mit seinen geknickten Kniekehlen, daß niemand ihn wiederzuerkennen vermöchte, der ihn in seiner Jugend als Füllen gekannt hat, selbst er besteht nur aus Leben

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