Der Jude Jesus und die Zukunft des Christentums. Nobert Reck

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Der Jude Jesus und die Zukunft des Christentums - Nobert Reck

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Nach dem verheerenden Erdbeben, das 1755 die Stadt Lissabon fast völlig zerstörte und Zehntausende von Todesopfern forderte, protestierte der französische Aufklärer gegen die traditionellen Darstellungen der Geschichte, die noch fraglos davon ausgingen, dass alles in der Welt – auch Naturkatastrophen, Verfolgung, Krieg und Vergewaltigungen – im Grunde von Gott gewollt sei. Voltaire hielt es für empörend, das Weltgeschehen als Manifestation der göttlichen Vorsehung zu betrachten oder die Welt sogar, wie Leibniz, zur besten aller möglichen Welten zu erklären. In seiner Novelle Candide ließ Voltaire seinen Protagonisten in den Wirren nach dem Lissaboner Erdbeben seufzen: »Wenn dies die beste aller möglichen Welten ist, wie müssen erst die anderen sein!« (30).

      Für Voltaire gab es keine überzeugende Antwort, wie man die Existenz Gottes, an die er anfangs noch glaubte, mit der Existenz des Leidens in Einklang bringen konnte – er ließ die Frage offen. Die Menschen hatten in seinen Augen nicht die Aufgabe, sich auf die Ewigkeit auszurichten, sondern die Welt zu einem Ort zu machen, an dem man gut leben konnte: »Il faut cultiver notre jardin« sind die abschließenden Worte Candides am Ende des Buchs: »Wir haben in unserem Garten zu arbeiten« (١٥٨). In seiner Philosophie de l’Histoire (»Geschichtsphilosophie« – von ihm stammt dieser Ausdruck) hielt sich Voltaire dementsprechend konsequent an empirisch fassbare Geschichtsdaten und Ursachenzusammenhänge. (Seine Hoffnung auf eine »natürliche Religion« schien ihm zuletzt ebenso wenig haltbar wie das Christentum, das er ohnehin ablehnte. Voltaire, schreibt Roy Porter, »starb vermutlich als Atheist« [47].)

      So wurde Voltaire zum Wegbereiter einer neuen, ganz und gar »weltlichen« Betrachtung der Geschichte – ohne jeden religiösen Überbau. Hinzu kam das Ursache-Wirkungs-Denken der Naturwissenschaften, das sich allmählich ins gesellschaftliche und geschichtliche Denken einfügte: Alles hatte eine »innerweltliche« Ursache, alles hatte eine Geschichte. Für die Theologie wurde das vor allem im Werk von Hermann Samuel Reimarus (1694–1768) sichtbar.

      Reimarus, Professor für die Sprachen des Orients in Hamburg, hätte nach dem Wunsch seiner Eltern eigentlich ein angesehener lutherischer Pastor werden sollen, sah sich aber umso weniger dazu in der Lage, je mehr er seine philologischen und theologischen Studien miteinander und mit der Philosophie der frühen Aufklärung konfrontierte. Vieles am christlichen Glauben erschien ihm anstößig, unvernünftig, moralisch inakzeptabel; der Deismus überzeugte ihn mehr. Dennoch betrieb er über dreißig Jahre lang – bis zu seinem Lebensende – in seiner freien Zeit kritische Bibelstudien. Sein Ziel war es, denjenigen etwas an die Hand zu geben, die sich nicht mehr von den kirchlichen Glaubensvorgaben gängeln lassen wollten. Er hielt seine Aufzeichnungen aber unter Verschluss und bestimmte, dass sie nicht veröffentlicht werden dürften, »bevor sich die Zeiten mehr aufklären« (Apologie, 41).

      Als Gotthold Ephraim Lessing in seiner Eigenschaft als ­Bibliothekar der Herzoglichen Bibliothek zu Wolfenbüttel in den 1770er-Jahren erstmals einige »Fragmente« aus Vorstufen von Reimarus’ Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes anonym veröffentlichte, rief er einen immensen Sturm der Entrüstung, aber auch viel Begeisterung hervor. Der sogenannte »Fragmentenstreit« wurde zur bedeutendsten theologischen Kontroverse im Deutschland des 18. Jahrhunderts. Allein von 1777 bis 1780 entstanden mehr als fünfzig Gegenschriften. Und auch in den folgenden Jahrzehnten wurden immer wieder Auseinandersetzungen mit Reimarus veröffentlicht.

      Was war so aufregend an seinen Studien? Ich erwähne nur zwei Aspekte, die in unserem Zusammenhang bedeutsam sind.

      Vor allem – das ist der erste Aspekt – hatte Reimarus die Bibel mit »geschichtlichem Blick« gelesen. Das war neu und in der Tat bahnbrechend. So stellte er etwa fest, dass diejenigen, die nach der Hinrichtung des Jesus von Nazaret die christliche Gemeinde aufbauten, anderes vertraten als Jesus selbst, weswegen seine Botschaft nicht mit der der Apostel »vermischt« werden dürfe:

      […] ich finde große Ursache, dasjenige, was die Apostel in ihren eignen Schriften vorbringen, von dem, was Jesus in seinem Leben wirklich selbst ausgesprochen und gelehret hat, gänzlich abzusondern. Denn die Apostel sind selbst Lehrer gewesen, und tragen also das ihrige vor, haben auch nimmer behauptet, daß Jesus ihr Meister selbst in seinem Leben alles dasjenige gesagt und gelehret, was sie schreiben.

      (Von dem Zwecke Jesu, 7 f)

      Erstmals unterschied hier ein Bibelkenner verschiedene Zeitschichten mit unterschiedlichen Tendenzen in den biblischen Texten. Und darüber hinaus tat er es so, dass seine Leser und Leserinnen die Beobachtungen leicht selbst nachvollziehen konnten, wenn sie ihre Bibel zur Hand nahmen. Sie konnten feststellen, dass die Behauptung, die Bibel sei insgesamt das unveränderliche, eine, heilige Wort Gottes, zumindest auf der Ebene der Textoberfläche einfach nicht stimmte: Es ließen sich in den biblischen Büchern deutlich unterscheidbare und zum Teil einander widersprechende Auffassungen ausmachen; man konnte auch nachverfolgen, wie sich bestimmte Aussagen weiterentwickelt hatten, und es war zu erkennen, dass man den Texten Gewalt antäte, wollte man sie auf eine einheitliche Botschaft festlegen.

      Was Jesus betraf, führte dies zu der Frage, was dieser denn von allem, was die Kirchen über ihn sagten, wirklich vertreten hatte. Für Reimarus war »wirklich«, was geschichtlich zu­ver­lässig festzuhalten war. Er ging davon aus, dass die Evangelien, die von der Zeit Jesu erzählten, die unmittelbarsten Zeugnisse sein mussten, während die »Schriften der Apostel« bereits eine sekundäre, von anderen Interessen geleitete, quasi schon »kirchliche« Erweiterung darstellten:

      Dagegen führen sich die vier Evangelisten blos als Geschichtschreiber auf, welche das hauptsächlichste, was Jesus sowol geredet als gethan, zur Nachricht aufgezeichnet haben. Wenn wir nun wissen wollen, was eigentlich Jesu Lehre gewesen, was er gesagt und geprediget habe, so ist das res facti, so frägt sichs nach etwas das geschehen ist; und daher ist dieses aus den Nachrichten der Geschichtschreiber zu holen. Da nun dieser Geschichtschreiber gar viere sind, und sie alle in der Haupt-Summe der Lehre Jesu übereinstimmen: so ist weder an der Aufrichtigkeit ihrer Nachrichten zu zweifeln, noch auch zu glauben, daß sie einen wichtigen Punkt oder wesentlich Stück der Lehre Jesu sollten verschwiegen oder vergessen haben.

      (Von dem Zwecke Jesu, 8)

      Hier müssen wir uns nicht damit aufhalten, dass Reimarus die Evangelisten noch umstandslos als Geschichtsschreiber (und nicht als Prediger oder Theologen) ansah – auch etliche andere seiner Hypothesen sind inzwischen offenkundig überholt. Der springende Punkt für unsere Überlegungen ist vielmehr, dass für Reimarus der Blick auf die geschichtlichen Fakten maßgeblich wurde.

      Waren die Theologen in den Jahrzehnten vor Reimarus zuallermeist davon ausgegangen, dass alles, wovon die Bibel erzählt, geschichtliche Wahrheit sei, so befragte Reimarus nun die Texte anhand eines rein weltlichen Geschichtsverständnisses, wie es vor ihm schon Voltaire skizziert hatte. Er wollte wissen, ob die in der Bibel berichteten Geschehnisse historisch und logisch überhaupt denkbar seien, ob die Fakten stimmen konnten.

      So rechnete er bei der Geschichte vom Durchzug der Israeliten durchs Rote Meer nach, wie groß das Volk während der Sklaverei in Ägypten geworden sein musste, und fragte süffisant, ob ein Exodus so vieler Menschen überhaupt möglich gewesen sein konnte. Und bei der Verkündigung der Auferstehung Jesu spekulierte er darüber, warum die Jünger erst an Pfingsten, fünfzig Tage nach der Kreuzigung, damit an die Öffentlichkeit gegangen seien. Hatten sie vielleicht doch den Leichnam Jesu beiseitegeschafft und gewartet, bis er nicht mehr identifizierbar war? So suchte Reimarus nach der Wirklichkeit hinter den Erzählungen.

      Dass die Texte andere Absichten gehabt haben könnten, war ihm (und seiner Zeit) fern. Er nahm die »fünfzig Tage« zwischen Ostern und Pfingsten als Faktum, das sein kritischer Geist nicht – wie so vieles andere – infrage stellte. Dass die Zeitspanne zwischen den beiden christlichen Hochfesten genau der Spanne zwischen den jüdischen Festen Pessach und Schawuot entsprach und die neutestamentliche Darstellung offenbar eine christliche Interpretation dieser Feste sein wollte, entging seiner Faktenfixierung.

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