Geist & Leben 4/2021. Verlag Echter
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Keuschheit und Kontemplation
Die tiefen Erwägungen des Thomas von Aquin zur Keuschheit fasst Josef Pieper am Ende so zusammen: „Keuschheit (…) macht nicht nur zur Wahrheitsvernehmung fähig und bereit und also auch zu wirklichkeitsgerechter Entscheidung, sondern auch zu jener höchsten Form des Wirklichkeitsverhältnisses, in der ungetrübteste Erkenntnishingabe und selbstloseste Liebeshingabe eins sind: zur Beschauung (contemplatio), in der sich der Mensch dem göttlichen Sein zukehrt und der Wahrheit inne wird, die zugleich das höchste Gut ist.“22 Demnach bildet die geistige Haltung der Keuschheit die Voraussetzung echter Wahrheitserkenntnis. Der innerlich unverstellte Mensch vermag die Wirklichkeit ganz zu erfassen. Zugleich lässt er sich von dieser Wirklichkeit auch in die Pflicht nehmen, so dass sie ihm zur Richtschnur für sein eigenes Leben wird. Keuschheit und Kontemplation sind nicht voneinander zu trennen. Wer im Gebet des Geheimnisses des dreifaltigen Gottes und seiner sich selbstlos verschenkenden Liebe innewird, kann nicht anders, als selbst Maß zu nehmen an dieser Liebe, welche die Liebe ohne Maß ist23. „Selig, die rein sind im Herzen; denn sie werden Gott schauen“ (Mt 5,8).
Stete Umkehr zur Keuschheit
Keuschheit ist, wie erwähnt, nicht Enthaltsamkeit. Umgekehrt ist Enthaltsamkeit noch lange kein Garant für ein keusches Leben. Das wussten schon die Mönchsväter24. Die zölibatäre Lebensform allein kann daher nicht den Anspruch auf ein keusches Leben erheben. Die äußere Form muss auch gedeckt sein durch das persönliche Bemühen um Keuschheit. Keuschheit ist wie alle Tugenden kein bleibender Besitz. Um die Keuschheit muss man sich ein ganzes Leben lang mühen. Das bewahrt einen vor Überheblichkeit und wird zur beständigen Demutsübung.
Der heilige Josef hat im Sinne der caritas ordinata der Liebe zu Gott den ersten Platz eingeräumt und sein Leben ganz danach ausgerichtet. Er hat die Vaterrolle für Christus bereitwillig übernommen und war sich dennoch immer darüber im Klaren, wer er ist und wer er nicht ist. Mit großer Diskretion wusste er das Geheimnis Mariens zu wahren und blieb ihr Zeit seines Lebens in liebevoller Fürsorge zugetan, ohne sie bloßzustellen oder selbstgerecht dem Gerede der Menschen auszuliefern. Das göttliche Kind hat er vor jedem Übergriff bewahrt und war sich dafür nicht zu schade, immer neu aufzubrechen, bis es ihm geschenkt wurde, seiner Familie die Geborgenheit eines echten Zuhauses zu geben. Von ihm hat Jesus gelernt, mit den Menschen auf die unterschiedlichsten Weisen in Beziehung zu treten und sich dennoch immer selbst treu zu bleiben. Die mittelalterlichen Krippendarstellungen zeigen uns einen nachdenklichen Josef, die Wange in die Hand geschmiegt. Er betrachtet das Geheimnis der Menschwerdung des Gottessohnes und lässt sich im Geist der Kontemplation zu einer Erneuerung seiner Liebe herausfordern. In seinem besonderen Gedenkjahr möge der heilige Josef geistlicher Vater und Wegweiser zur Keuschheit werden, die zur wahren Gottes- wie Selbst- und Nächstenliebe befähigt.
*Bei diesem Beitrag handelt es sich um eine für GEIST & LEBEN überarbeitete Fassung des von Bischof Dr. Franz Jung verfassten Gründonnerstagsbriefes 2021, adressiert an die Priester und Diakone des Bistums Würzburg.
1Papst Franziskus, Apostolisches Schreiben „Patris Corde“ (08.12.2020), Schluss.
2E. Kürpick, Heimliches Feuer unter der Asche. Gedanken zur Keuschheit, in: GuL 88 (2015), 336–343, hier: 337.
3Zu einer überblicksartigen Darstellung vgl. die Artikel Keuschheit I–IV, in: TRE 18 (1989), 113–134.
4Vgl. Papst Franziskus, Nachsynodales Apostolisches Schreiben „Amoris Laetitia“ (19.03.2016), Nr. 158–162 zum rechten Verhältnis von Ehe und Jungfräulichkeit.
5Zur Keuschheit als „Kampfbegriff“ vgl. K. Westerhorstmann, Geordnete Sexualität. Über die Tugend der Keuschheit, in: IMABE 17 (2010), 315–329, hier: 318.
6Pontifikale. Bd. I: Die Weihe des Bischofs, der Priester und der Diakone (Handausgabe). Freiburg 1994, 168.
7F.-J. Bormann, Abschied von der Verbotsmoral. Zur Bedeutung eines fähigkeitstheoretischen Ansatzes für die Moraltheologie, in: ThQ 191 (2011), 210–222.
8E. Fromm, Die Kunst des Liebens. München 1995.
9Vgl. K. Westerhorstmann, Geordnete Sexualität, 318f. [s. Anm. 5].
10 Bernhard von Clairvaux, 49. Predigt über das Hohelied, in: ders., Sämtliche Werke. Bd. 6. Innsbruck 1995, 160–171.
11 Vgl. Papst Franziskus, Apostolisches Schreiben „Patris Corde“ (08.12.2020), Kap. 7, „Vater im Schatten“: „Vater zu sein bedeutet, das Kind an die Erfahrung des Lebens, an die Wirklichkeit heranzuführen. Nicht, um es festzuhalten, nicht, um es einzusperren, nicht, um es zu besitzen, sondern um es zu Entscheidungen, zur Freiheit, zum Aufbruch zu befähigen. Vielleicht aus diesem Grund spricht die Tradition Josef nicht nur als Vater an, sondern fügt hier noch das Wort ‚keusch‘ hinzu. Dies ist nicht eine rein affektive Angabe, sondern drückt eine Haltung aus, die man als das Gegenteil von ‚besitzergreifend‘ bezeichnen könnte. Keuschheit ist die Freiheit von Besitz in allen Lebensbereichen. Nur wenn eine Liebe keusch ist, ist sie wirklich Liebe.“
12 J. Pieper, Das Viergespann. München 1964, 224.
13 E. Kürpick, Heimliches Feuer, 339 [s. Anm. 2].
14 H. Brantzen, Die sieben Säulen des Priestertums. Freiburg i. Br. 2015, 68f.
15 H.-B. Gerl-Falkovitz weist darauf hin, dass Menschen oft erst innerhalb der Ehe und der treuen Bindung an einen Partner das Ideal der Keuschheit leben lernen. Dies lässt den Begriff der „Josefsehe“ tiefer verstehen, jenseits der Verengung des Begriffs auf sexuelle Abstinenz. Vgl. dies., Frau, Männin, Menschin. Zwischen Feminismus und Gender. Kevelaer 2016, 257. Vgl. auch Papst Franziskus, Amoris Laetitia (2016), Nr. 162 [s. Anm. 4]: „Wer zur Jungfräulichkeit berufen ist, kann in manchen Ehen ein deutliches Zeichen der großherzigen und unerschütterlichen Treue Gottes zu seinem Bund finden, das sein Herz zu einer konkreteren und hingebungsvolleren Verfügbarkeit anspornt.“