Wilhelm Meisters Lehrjahre. Ein Roman. Ehrhard Bahr

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Wilhelm Meisters Lehrjahre. Ein Roman - Ehrhard Bahr Reclams Universal-Bibliothek

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ihn näher kennenzulernen.

      [112]In den gedruckten Anzeigen waren die mannigfaltigen Künste der Gesellschaft, besonders eines Monsieur Narziß und der Demoiselle Landrinette herausgestrichen, welche beide, als Hauptpersonen, die Klugheit gehabt hatten, sich von dem Zuge zu enthalten, sich dadurch ein vornehmeres Ansehn zu geben und größere Neugier zu erwecken.

      Während des Zuges hatte sich auch die schöne Nachbarin wieder am Fenster sehen lassen, und Wilhelm hatte nicht verfehlt, sich bei seinem Gesellschafter nach ihr zu erkundigen. Dieser, den wir einstweilen Laertes nennen wollen, erbot sich, Wilhelmen zu ihr hinüber zu begleiten. »Ich und das Frauenzimmer«, sagte er lächelnd, »sind ein paar Trümmer einer Schauspielergesellschaft, die vor kurzem hier scheiterte. Die Anmut des Orts hat uns bewogen, einige Zeit hierzubleiben und unsre wenige gesammelte Barschaft in Ruhe zu verzehren, indes ein Freund ausgezogen ist, ein Unterkommen für sich und uns zu suchen.«

      Laertes begleitete sogleich seinen neuen Bekannten zu Philinens Türe, wo er ihn einen Augenblick stehenließ, um in einem benachbarten Laden Zuckerwerk zu holen. »Sie werden mir es gewiss danken«, sagte er, indem er zurückkam, »dass ich Ihnen diese artige Bekanntschaft verschaffe.«

      Das Frauenzimmer kam ihnen auf ein paar leichten Pantöffelchen mit hohen Absätzen aus der Stube entgegengetreten. Sie hatte eine schwarze Mantille über ein weißes Negligé geworfen, das, eben weil es nicht ganz reinlich war, ihr ein häusliches und bequemes Ansehn gab; ihr kurzes Röckchen ließ die niedlichsten Füße von der Welt sehen.

      »Sein Sie mir willkommen!« rief sie Wilhelmen zu, »und nehmen Sie meinen Dank für die schönen Blumen.« Sie führte ihn mit der einen Hand ins Zimmer, indem sie mit [113]der andern den Strauß an die Brust drückte. Als sie sich niedergesetzt hatten und in gleichgültigen Gesprächen begriffen waren, denen sie eine reizende Wendung zu geben wusste, schüttete ihr Laertes gebrannte Mandeln in den Schoß, von denen sie sogleich zu naschen anfing. »Sehn Sie, welch ein Kind dieser junge Mensch ist!« rief sie aus; »er wird Sie überreden wollen, dass ich eine große Freundin von solchen Näschereien sei, und er ist’s, der nicht leben kann, ohne irgendetwas Leckeres zu genießen.«

      »Lassen Sie uns nur gestehn«, versetzte Laertes, »dass wir hierin, wie in mehrerem, einander gern Gesellschaft leisten. Zum Beispiel«, sagte er, »es ist heute ein sehr schöner Tag; ich dächte, wir führen spazieren und nähmen unser Mittagsmahl auf der Mühle.« – »Recht gern«, sagte Philine, »wir müssen unserm neuen Bekannten eine kleine Veränderung machen.« Laertes sprang fort, denn er ging niemals, und Wilhelm wollte einen Augenblick nach Hause, um seine Haare, die von der Reise noch verworren aussahen, in Ordnung bringen zu lassen. »Das können Sie hier!« sagte sie, rief ihren kleinen Diener, nötigte Wilhelmen auf die artigste Weise, seinen Rock auszuziehen, ihren Pudermantel anzulegen und sich in ihrer Gegenwart frisieren zu lassen. »Man muss ja keine Zeit versäumen«, sagte sie; »man weiß nicht, wie lange man beisammenbleibt.«

      Der Knabe, mehr trotzig und unwillig als ungeschickt, benahm sich nicht zum Besten, raufte Wilhelmen und schien so bald nicht fertig werden zu wollen. Philine verwies ihm einige Mal seine Unart, stieß ihn endlich ungeduldig hinweg und jagte ihn zur Türe hinaus. Nun übernahm sie selbst die Bemühung und kräuselte die Haare unsers Freundes mit großer Leichtigkeit und Zierlichkeit, [114]ob sie gleich auch nicht zu eilen schien und bald dieses bald jenes an ihrer Arbeit auszusetzen hatte, indem sie nicht vermeiden konnte, mit ihren Knien die seinigen zu berühren und Strauß und Busen so nahe an seine Lippen zu bringen, dass er mehr als einmal in Versuchung gesetzt ward, einen Kuss darauf zu drücken.

      Als Wilhelm mit einem kleinen Pudermesser seine Stirne gereinigt hatte, sagte sie zu ihm: »Stecken Sie es ein, und gedenken Sie meiner dabei.« Es war ein artiges Messer; der Griff von eingelegtem Stahl zeigte die freundlichen Worte: »Gedenke mein.« Wilhelm steckte es zu sich, dankte ihr und bat um die Erlaubnis, ihr ein kleines Gegengeschenk machen zu dürfen.

      Nun war man fertig geworden. Laertes hatte die Kutsche gebracht, und nun begann eine sehr lustige Fahrt. Philine warf jedem Armen, der sie anbettelte, etwas zum Schlage hinaus, indem sie ihm zugleich ein munteres und freundliches Wort zurief.

      Sie waren kaum auf der Mühle angekommen und hatten ein Essen bestellt, als eine Musik vor dem Hause sich hören ließ. Es waren Bergleute, die zu Zither und Triangel mit lebhaften und grellen Stimmen verschiedene artige Lieder vortrugen. Es dauerte nicht lange, so hatte eine herbeiströmende Menge einen Kreis um sie geschlossen, und die Gesellschaft nickte ihnen ihren Beifall aus den Fenstern zu. Als sie diese Aufmerksamkeit gesehen, erweiterten sie ihren Kreis und schienen sich zu ihrem wichtigsten Stückchen vorzubereiten. Nach einer Pause trat ein Bergmann mit einer Hacke hervor und stellte, indes die andern eine ernsthafte Melodie spielten, die Handlung des Schürfens vor.

      [115]Es währte nicht lange, so trat ein Bauer aus der Menge und gab jenem pantomimisch drohend zu verstehen, dass er sich von hier hinwegbegeben solle. Die Gesellschaft war darüber verwundert und erkannte erst den in einen Bauer verkleideten Bergmann, als er den Mund auftat und in einer Art von Rezitativ den andern schalt, dass er wage, auf seinem Acker zu hantieren. Jener kam nicht aus der Fassung, sondern fing an, den Landmann zu belehren, dass er recht habe, hier einzuschlagen, und gab ihm dabei die ersten Begriffe vom Bergbau. Der Bauer, der die fremde Terminologie nicht verstand, tat allerlei alberne Fragen, worüber die Zuschauer, die sich klüger fühlten, ein herzliches Gelächter aufschlugen. Der Bergmann suchte ihn zu berichten und bewies ihm den Vorteil, der zuletzt auch auf ihn fließe, wenn die unterirdischen Schätze des Landes herausgewühlt würden. Der Bauer, der jenem zuerst mit Schlägen gedroht hatte, ließ sich nach und nach besänftigen, und sie schieden als gute Freunde voneinander; besonders aber zog sich der Bergmann auf die honorabelste Art aus diesem Streite.

      »Wir haben«, sagte Wilhelm bei Tische, »an diesem kleinen Dialog das lebhafteste Beispiel, wie nützlich allen Ständen das Theater sein könnte, wie vielen Vorteil der Staat selbst daraus ziehen müsste, wenn man die Handlungen, Gewerbe und Unternehmungen der Menschen von ihrer guten, lobenswürdigen Seite und in dem Gesichtspunkte auf das Theater brächte, aus welchem sie der Staat selbst ehren und schützen muss. Jetzt stellen wir nur die lächerliche Seite der Menschen dar; der Lustspieldichter ist gleichsam nur ein hämischer Kontrolleur, der auf die Fehler seiner Mitbürger überall ein wachsames Auge hat und froh zu sein [116]scheint, wenn er ihnen eins anhängen kann. Sollte es nicht eine angenehme und würdige Arbeit für einen Staatsmann sein, den natürlichen, wechselseitigen Einfluss aller Stände zu überschauen und einen Dichter, der Humor genug hätte, bei seinen Arbeiten zu leiten? Ich bin überzeugt, es könnten auf diesem Wege manche sehr unterhaltende, zugleich nützliche und lustige Stücke ersonnen werden.«

      »Soviel ich«, sagte Laertes, »überall wo ich herumgeschwärmt bin, habe bemerken können, weiß man nur zu verbieten, zu hindern und abzulehnen; selten aber zu gebieten, zu befördern und zu belohnen. Man lässt alles in der Welt gehn, bis es schädlich wird; dann zürnt man und schlägt drein.«

      »Lasst mir den Staat und die Staatsleute weg«, sagte Philine, »ich kann mir sie nicht anders als in Perücken vorstellen, und eine Perücke, es mag sie aufhaben wer da will, erregt in meinen Fingern eine krampfhafte Bewegung; ich möchte sie gleich dem ehrwürdigen Herrn herunternehmen, in der Stube herumspringen und den Kahlkopf auslachen.«

      Mit einigen lebhaften Gesängen, welche sie sehr schön vortrug, schnitt Philine das Gespräch ab und trieb zu einer schnellen Rückfahrt, damit man die Künste der Seiltänzer am Abende zu sehen nicht versäumen möchte. Drollig bis zur Ausgelassenheit, setzte sie ihre Freigebigkeit gegen die Armen auf dem Heimwege fort, indem sie zuletzt, da ihr und ihren Reisegefährten das Geld ausging, einem Mädchen ihren Strohhut und einem alten Weibe ihr Halstuch zum Schlage hinauswarf.

      Philine lud beide Begleiter zu sich in ihre Wohnung, weil man, wie sie sagte, aus ihren Fenstern das öffentliche Schauspiel besser als im andern Wirtshause sehen könne.

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