Wir können und müssen uns neu erfinden. Wilhelm Rotthaus

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Wir können und müssen uns neu erfinden - Wilhelm Rotthaus Systemische Horizonte

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die Wissenschaften dramatische Ergebnisse und Prognosen, die sich alle im Wesentlichen bestätigt haben. Auch ist weitgehend unbestritten, dass durchgreifende Änderungen getroffen werden müssen, um die Folgen des Klimawandels zumindest einzugrenzen. Selbst darüber, welche Maßnahmen vordringlich zu ergreifen sind, gibt es kaum einen gravierenden Dissens. Das Überraschende ist nur: Diese Maßnahmen werden von der Politik – wenn überhaupt – nur sehr zögerlich angegangen, und es gibt nur kleine Gruppen in der Bevölkerung, die Druck machen, während andere eher bremsen. Die meisten Menschen ignorieren aber schlicht die Befunde und auch die nicht mehr zu übersehenden Signale, auch wenn das zunehmend schwieriger wird.

      Warum ist das so? Zunächst bietet sich die naheliegende Überlegung an, dass niemand gerne deutliche Änderungen in seinem Lebensstil vollzieht, wenn er sich nicht dazu gezwungen fühlt. Und dieser Zwang wirkt zumeist erst dann, wenn die Folgen des Nichtdarauf-Reagierens unmittelbar vor Augen stehen. Auch sind alle Szenarien, die mit dem Erleben von Verlust und Einschränkungen verbunden sind, verständlicherweise nicht besonders verlockend. Und schließlich löst das Bedrohungsszenario Gefühle der Hilflosigkeit aus, die bekanntlich oft durch Verdrängungsmechanismen »bewältigt« werden. Andererseits: Für ihre Kinder und Enkel setzen sich die Menschen heutzutage in der Regel bereitwillig und oft sehr engagiert ein und sorgen sich um deren Wohlergehen und Zufriedenheit. Und doch zeigen sie kaum eine Bereitschaft, sich für den Schutz unseres Planeten einzusetzen, damit dieser ihren Kindern und Enkeln noch ein gutes Leben ermöglichen kann.

      Dieses auch von anderen Autoren wahrgenommene Gesamtphänomen muss einen tieferen Grund haben, ohne den das Verhalten des heutigen Menschen nicht erklärbar ist. Und der liegt meines Erachtens in dem anthropozentrischen Selbst- und Weltbild des Menschen, das die offensichtlich zu Ende gehende Epoche des Individualismus geprägt hat. Die Idee des Individuums, mit der es sich – Gott gleich – mehr und mehr zum Maßstab aller Dinge machte, hat der europäische Mensch etwa im 12. Jahrhundert erfunden. Er hat den Auftrag des Alten Testamentes aufgegriffen, sich die Erde und alles, was darauf »kreucht und fleucht«, untertan zu machen. Dieses Menschenbild, das im weiteren Verlauf dieses Beitrags noch näher skizziert werden soll, hat außerordentliche Kräfte freigesetzt und eine imposante technische Entwicklung möglich gemacht. Sein linear-kausales Denken wurde zum dominanten Modell; denn es war sehr erfolgreich.

      Ein ökologisches Denkmodell demgegenüber, das Zusammenhänge und wechselseitige Abhängigkeiten wahrnimmt und berücksichtigt, ist dem Menschen mit einem individuumzentrierten Weltbild fremd. Er ist dafür sozusagen blind. Auch Ideen von Zusammenleben und Kooperation gerieten im Verlauf der neun Jahrhunderte in den Hintergrund zugunsten des spätestens im letzten Jahrhundert zunehmend vorrangig in Erscheinung tretenden Ziels der Selbstverwirklichung. Hinzu kam, dass der Mensch in der Epoche des Individualismus den gleichmäßig und unerbittlich voranschreitenden linearen Zeitstrahl zum einzig gültigen Zeitkonzept erkor. Aufgrund dessen fühlt sich der sich selbst verwirklichende Mensch heute stetig angetrieben, dem obersten Ziel, seinem individuellen Glück, hinterherzulaufen und ja nichts zu verpassen, denn das Verpasste kommt ja nicht wieder. Dieser Mensch hat keine Zeit und darf nicht verweilen. Zweifel an dem Sinn seines Tuns und die Wahrnehmung der Folgen seines Verhaltens würden ihn nur aufhalten, sodass er sein Glück verfehlen könnte.

      Solange der Mensch sich von diesem individuumzentrierten Selbst- und Weltbild dominieren lässt, wird er nicht in der Lage sein, die anstehenden notwendigen Veränderungen seines Handelns vorzunehmen. Denn er ist ganz auf sich und seinen persönlichen Vorteil konzentriert, hat keinen Blick für übergreifende Zusammenhänge und die Notwendigkeit weltweiter Kooperation. Die primäre, dringend anstehende Veränderung muss also sein, dass der Mensch ein neues Verständnis von sich und seinem Leben in der Welt entwickelt, das heißt, dass der Mensch sich neu erfindet, so, wie er dies vor etwa 900 Jahren schon einmal getan hat.

      Um die vielfältigen Dimensionen dieses gesellschaftlichen Umbruchs besser verstehen zu können, lohnt ein Blick zurück. In der Zeit vom 11. bis zum 13. Jahrhundert n. Chr. haben unsere Vorfahren in Europa eine ähnliche Transformation geleistet, als sie die Idee des Individuums erfanden, mit der Konstruktion von Räderuhren eine lineare Zeitvorstellung zum dominanten Modell von Zeit machten, als sie den dreidimensionalen Raum und die Perspektive entdeckten und den länderübergreifenden Handel mit Gütern zu einem Wirtschaftssystem ausbauten, das im Verlauf der Jahrhunderte zu der die Gesellschaft bestimmenden Kraft wurde.

      Demgegenüber hatte der Mensch im Frühmittelalter, also in der Zeit etwa von 450 bis 1050 n. Chr., ein völlig anderes Verständnis von sich und der Welt, in der er lebte. Sein Blick war geprägt durch eine – wie wir es heute formulieren würden – ganzheitliche ökologisch-systemische Perspektive. Der Einzelne erlebte sich als Teil einer größeren Ordnung und Gemeinschaft, von der er abhängig war, die seinem Leben und seinen Handlungen Sinn verlieh und die seine Verhaltensmöglichkeiten bestimmte.

      Dieser Blick zurück soll deutlich machen, dass unser heutiges Menschenbild und die Art, wie wir die Dinge betrachten, wie wir Raum und Zeit verstehen, die materiellen Güter verteilen, die Wirtschaft und unser Rechtssystem organisieren, keinesfalls so selbstverständlich sind, wie wir das unterstellen. Das heißt: Es soll erkennbar werden, dass der Mensch und seine Beziehung zur Umwelt auch völlig anders gedacht werden kann.

      Dieser Idee folgt der Aufbau des Buches:

      In Teil 1 wird die Andersartigkeit des Welt- und Selbstbilds des frühmittelalterlichen Menschen geschildert. Trotz der nahezu unüberwindlichen Fremdheit soll versucht werden, zumindest eine Ahnung vom Denken und Erleben des Menschen in der damaligen Zeit zu wecken. Damit soll deutlich werden, dass das heutige Verständnis des Menschen von sich und der Welt keineswegs unverrückbar und selbstverständlich ist. Das heißt: Wir können uns neu erfinden.

      In Teil 2 wird auf diesem Hintergrund die Dramatik der epochalen Wende im 11. bis 13. Jahrhundert geschildert, die sich mit der Erfindung des Individuums vollzog. Es werden die wichtigsten Aspekte des Umbruchs im Selbst-Bewusstsein der Menschen aufgeführt, um zu verdeutlichen, wie damals in einer relativ kurzen Periode die Grundideen unserer heutigen Sicht auf uns selbst und auf die Welt erfunden wurden.

      In Teil 3 wird dargestellt, dass sich auch heute die typischen Kennzeichen einer Umbruchphase zeigen, die nach meiner Überzeugung nur dann erfolgreich bewältigt werden kann, wenn der Mensch ein neues Bild von sich und seiner Beziehung zu der Welt, in der er lebt, entwickelt. Nur dann wird er bereit und in der Lage sein, die notwendigen Schritte zum Erhalt einer lebensfreundlichen Umwelt auf unserem Planeten zu machen. Das heißt: Wir müssen uns neu erfinden.

      In Teil 4 werden schließlich einige aktuelle Ideen und Konzepte erörtert, die nach meiner Überzeugung Teil eines neuen Selbst- und Weltbildes werden sollten oder zumindest den notwendigen Weg dahin bahnen können.

      Den Menschen im 11. bis 13. Jahrhundert ging es wie uns heute: Sie erlebten den Zusammenbruch des bis dahin dominierenden Weltbildes und standen vor der Aufgabe, eine neue Idee von sich und ihrer Beziehung zur Welt zu entwickeln, die die eigenen Vorstellungsmöglichkeiten überstieg und für die es auch noch keine Sprache gab. Die Leistung, die damals gelungen ist, hat eine außerordentliche kulturelle, technische und wirtschaftliche Entwicklung ermöglicht. Sie hat aber auch viele Schattenseiten mit sich gebracht: Klimakrise, soziale Ungerechtigkeit und gesellschaftliche Spaltung sind nur die offensichtlichsten Stichworte. Wir sind heute aufgerufen, ein neues Bewusstsein unserer selbst und der Beziehung zu unserer Lebensumwelt zu entwickeln, ohne genau zu wissen, wie das aussehen wird. Wir müssen in eine unbekannte Zukunft navigieren, deren Umrisse sich jedoch in Teilen bereits abzeichnen.

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