Der Weg der Kontemplation: einfach, aber nicht immer leicht. Karin Seethaler
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Unser Wahrnehmungsbereich wird auch immer dann eingeschränkt, wenn wir uns auf eine Aufgabe fokussieren und versuchen, etwas Bestimmtes zu erreichen. Es kann geschehen, dass wir anderes in einem so großen Maße ausblenden, dass wir selbst eine als Gorilla verkleidete Person nicht wahrnehmen, die auf dem Bildschirm erscheint, sich in voller Größe in die Mitte stellt, mit den Fäusten auf die Brust trommelt und dann gemächlich weiterzieht. Das Experiment der beiden amerikanischen Psychologen Christopher Chabris und Daniel Simons hat jedoch genau dies bewiesen. 50 % der Testpersonen konzentrierten sich derart auf eine ihnen gestellte Aufgabe, dass sie den Gorilla tatsächlich nicht wahrgenommen haben, obwohl sie ununterbrochen konzentriert auf den Bildschirm geschaut hatten. Das Experiment mit dem Video können sie selbst mit Freunden durchführen.14 Wer jedoch im Vorfeld von dem Gorilla gehört hat oder das Video anschaut, ohne dabei eine Aufgabe zu erfüllen, kann nicht glauben, dass irgendjemand den Gorilla nicht sofort sieht.
Da wir in der Meditation keine Aufgabe zu erledigen haben und es auch nicht darum geht, etwas Bestimmtes wahrzunehmen, kann sich unser Wahrnehmungsbereich weiten.
Dies geschieht auch dann, wenn wir bereit sind, unsere Wahrnehmung läutern zu lassen. Läuterung bedeutet, etwas von Schlacken oder Verunreinigungen zu befreien. Unsere Wahrnehmung ist zwar nicht verunreinigt, jedoch aufgrund vielfältiger freudvoller und schmerzhafter Erfahrungen eingefärbt. Diese Einfärbungen nehmen die Farbe an von unseren Überzeugungen, Einstellungen, Erwartungen, Ansichten, von unserer körperlichen, emotionalen und geistigen Verfassung, unseren bisherigen Erfahrungen und von den uns vertrauten gesellschaftlichen Normen. Unser Blick wird durch diese Einfärbungen getrübt. Wir sehen die Wirklichkeit nicht in ihrer „heiligen Unabhängigkeit“ (Dag Hammarskjöld). Diese Einfärbungen bewirken eine selektive Blindheit, bei der wir zwar sehen, jedoch nicht sehen, was wir alles nicht sehen.
Gottes Anwesenheit können wir nicht sehen. Da er jedoch in uns gegenwärtig ist, spricht Paulus von uns als Tempel Gottes (1 Kor 3,16). Dieser Tempel beheimatet unsere menschliche Realität mit all ihren Einfärbungen und Gottes Gegenwart. Beides gehört unauflöslich zu uns. Um in der Meditation Spuren seiner Gegenwart wahrnehmen zu können, darf die Bereitschaft nicht fehlen, sich selbst wahrnehmen zu wollen.
Die selektive Blindheit bleibt bestehen, wenn der Mensch Realitäten nicht wahrnehmen will beziehungsweise nicht wahrhaben will. Dies habe ich in meiner Arbeit als Sozialpädagogin erfahren. Hier war es einmal meine Aufgabe, Langzeitarbeitslosen zu helfen, sich wieder in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Dies war kein leichtes Unterfangen, da manche von ihnen Alkoholiker waren, jedoch meist nicht bereit, diese Tatsache in den Blick zu nehmen. Sie wurde verharmlost und zumeist sofort verleugnet, sogar dann, wenn es ihnen durch einen Alkoholtest vor Augen geführt werden konnte, dass sie zu viel getrunken hatten. Wenn sich das Röhrchen grün verfärbte, was eindeutig ihren Alkoholkonsum aufdeckte, war das Röhrchen in ihren Augen dann aber nicht grün, sondern gelb. Ein gelbes Röhrchen belegte einen nüchternen Zustand. Ich kann mich noch gut erinnern, als ich das erste Mal den Alkoholtest durchführte und sich das Röhrchen grün verfärbte. Der Mann behauptete jedoch so vehement, dass das Röhrchen eindeutig gelb sei, dass er mich tatsächlich verunsicherte und ich eine Kollegin fragte, welche Farbe sie sehe. In dieser Situation wurde mir deutlich vor Augen geführt, wie das Blickfeld eingeschränkt bleibt und damit auch jegliche Entwicklung verhindert wird, wenn man unangenehme Tatsachen nicht sehen will.
Dies trifft ebenso für unseren Weg zu Gott zu. Wer nicht bereit ist, sich selbst wahrzunehmen, wie er ist, wird nur schwer die Spuren Gottes in sich und in seinem Leben wahrnehmen können. Evagrius Ponticus, ein Vertreter des frühen Mönchtums, hat bereits im 4. Jahrhundert folgende Empfehlung gegeben: „Willst du Gott erkennen, so lerne zunächst dich selbst kennen.“ Dieses Kennenlernen geschieht, indem wir in der Meditation unsere Aufmerksamkeit nach innen lenken und so in spürbaren Kontakt mit uns selbst kommen. Die Achtsamkeit auf das innere Erleben schärft und weitet die Selbstwahrnehmung. Wir werden im wahrsten Sinne des Wortes „selbst bewusster“. Denn „Wahrnehmen bedeutet bewusst werden“15. Es ist ein intensiver Prozess der Selbstbegegnung, der sich durch die Bereitschaft auszeichnet, sich selbst wahrnehmen zu wollen. Die Hoffnung, dass es weit mehr zu entdecken gilt, als wir im Augenblick wahrnehmen können, und die Sehnsucht nach einem vertieften Leben schenken uns die Kraft zum Weitergehen, ungeachtet der Einfärbungen, die unsere Sicht immer wieder einengen und verdunkeln. Von diesen allzu menschlichen Erfahrungen ließ sich Paulus nicht durcheinanderbringen. Er ermutigt dazu, unbeirrt den Weg zu Gott weiterzugehen, wenn er sagt: „Jetzt schauen wir in einen Spiegel und sehen nur rätselhafte Umrisse, dann aber schauen wir von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich unvollkommen, dann aber werde ich durch und durch erkennen, so wie ich auch durch und durch erkannt worden bin“ (1 Kor 13,12).
Um uns auf die Gnade der Kontemplation vorzubereiten, müssen wir lernen, wahrzunehmen. 16
Da Gott gegenwärtig ist, wir ihn aber nicht wahrnehmen, ist es eine logische Konsequenz, das Wahrnehmen zu lernen. Franz Jalics bezeichnet das kontemplative Gebet sogar als eine Schule der Wahrnehmung. Alles, was wir üblicherweise mit Schule verbinden, ist hier jedoch nicht von Belang. In dieser Schule wird man nämlich nicht beurteilt, man benützt keine Bücher, man muss keine Prüfungen bestehen, man hat keine Ferien, und man macht auch nicht irgendwann einen Abschluss. Dies ist für uns ungewohnt, da zum Beispiel Bücher für uns selbstverständlich zu einer Schule dazugehören. In der Schule der Wahrnehmung geht es aber um die unmittelbare Begegnung: mit uns selbst und mit der Gegenwart Gottes. Martin Buber sagt: „Alles wirkliche Leben ist Begegnung. Die Beziehung zum Du ist unmittelbar … Alles Mittel ist Hindernis. Nur wo alles Mittel zerfallen ist, geschieht die Begegnung.“17
Ein Beispiel von Franz Jalics soll dies veranschaulichen: Ein Mann liest gerade einen Brief von seinem Freund, als es klingelt und sein Freund vor der Tür steht. In diesem Moment verliert der Brief an Bedeutung. Er wird den Brief jetzt nicht mehr lesen, sondern ihn beiseitelegen und sich darüber freuen, seinem Freund unmittelbar zu begegnen. Das Gespräch ist nun das Mittel, das sie näher zueinanderführt. Es kann der Zeitpunkt kommen, in dem der Blickkontakt als Mittel der Kommunikation ausreicht. „Irgendwann wird sogar der Blick zu viel sein. Das stille Beisammensein genügt. Die Herzen weiten sich, und wir befinden uns noch näher beieinander als mit den vorher genannten Mitteln.“18
In der Meditation verzichte ich auf alle Mittel. „Ich bringe nichts mit als mich selbst“ (Silja Walter). Die Begegnung mit mir selbst und mit der Gegenwart geschieht in der unmittelbaren Wahrnehmung. Es kann Neuland sein, in der unmittelbaren Wahrnehmung zu bleiben, ohne das Wahrgenommene gedanklich sofort erfassen, beurteilen, analysieren und einordnen zu wollen. Dies war in der Meditation bei einem Mann der Fall, als er begann, seinen Körper bewusst wahrzunehmen. Er bemerkte, dass er dann anfing, jedes Körperteil, das er gerade wahrnahm, sofort zu benennen. Er kommentierte beständig seine eigenen Wahrnehmungen oder begann darüber nachzudenken, wie er das, was er gerade wahrnahm, anderen beschreiben würde. Er war es nicht gewohnt, „nur“ wahrzunehmen, was im Augenblick war.
Da gedankliche Überlegungen uns von der unmittelbaren Erfahrung im Hier und Jetzt wieder wegführen, übt man in der Schule der Wahrnehmung beständig ein, die Aufmerksamkeit immer wieder neu von den Gedanken auf die konkrete Wahrnehmung zurückzuführen. Es geht also nicht darum zu lernen, irgendwann etwas Besonderes wahrzunehmen, sondern darum, sich immer wieder neu auf das Hier und Jetzt einzulassen. Denn „in der Wahrnehmung bleiben, heißt auch in der Gegenwart bleiben“19. Es ist jedoch nicht selbstverständlich, dass wir mit unserer Aufmerksamkeit tatsächlich in der Gegenwart bleiben. In der Schnelllebigkeit unserer Zeit ist unsere Aufmerksamkeit häufig auch schnell, das heißt, sie ist sprunghaft. Sie verliert sich im Vielerlei und findet keine Verankerung mehr im Hier