Die Tyrannei des Geldes. Hans Peter Treichler

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Die Tyrannei des Geldes - Hans Peter Treichler

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manche Genfer Familien als begehrter Junggeselle. Zwar trug ihm die Stellung als Dozent nur ein bescheidenes Gehalt ein, aber Amiels Eltern hatten ihren Kindern ein ansehnliches Vermögen hinterlassen. Sowohl Vater wie Mutter verstarben früh; die Familie eines Onkels hatte den 13-jährigen Henri-Frédéric und die beiden Schwestern aufgenommen und ihnen eine «standesgemässe» Erziehung ermöglicht. Für Amiel bedeutete das: Ausbildung an der Académie, daran anschliessend lange Studienjahre im Ausland, vor allem in Berlin, Abschluss in Philosophie und Geistesgeschichte, die Berufung nach Genf.

      Trotzdem fand sich Amiel im mittleren Lebensalter in einer unbequemen Zwischenstellung. Zur aristokratisch getönten Genfer Oberschicht der Gelehrten und Bankiers mit Namen wie Pictet, Dufour und de Saussure, die er als «gutes altes Felsgestein» achtete, hielt er Abstand. Noch weniger behagten ihm die dynamischen Kaufleute und Unternehmer radikaler Prägung. Sie hatten in den Mittvierzigerjahren in einem blutigen Putsch die politische Macht erobert und Amiel indirekt zu seinem Posten verholfen. Denn unter dem Diktat des charismatischen Regierungspräsidenten James Fazy entliessen die Radikalen den Grossteil der konservativ gesinnten Dozenten der Académie, sofern diese nicht von sich aus kündigten. Amiel brach, beflügelt von der Aussicht auf einen Lehrstuhl, seine Studien in Berlin ab und erhielt prompt seine Berufung. Die noch ausstehende Dissertation schrieb er in ein paar Wochen herunter; im Oktober 1849 hielt er die erste Vorlesung.

      Aber die folgenden Jahre zeigten Amiel seine schiefe Stellung immer deutlicher auf. Weder gehörte er zum «Felsgestein» noch war er Radikaler, vom Temperament her eher ein stiller Gelehrter, doch mit künstlerischem Ehrgeiz. Er veröffentlichte, ohne grossen Erfolg, einige Gedichtbände, die ihn einem Kreis von Literaten, Malern und Musikern nahebrachten. Aber die damit verhakte Welt der Genfer Boheme blieb ihm zutiefst fremd, und die Bohemiens selbst rieben ihm seinen einzigen wahrhaften Publikumserfolg unter die Nase: Amiel hatte unter dem Titel Roulez, tambours! ein reichlich pathetisches Vaterlandslied verfasst. Zahlreiche Studienfreunde von früher waren Theologen und jetzt als Pfarrer oder Dozenten in der Stadt tätig. Aber auch zu ihnen fehlte ihm der rechte Zugang. Sie schienen ihm verkörpert in seinem Schwager Franki Guillermet: rechtschaffen und dabei ehrgeizig, dauernd gemessen an ihren Erfolgen mit «schwungvollen», «mitreissenden» Predigten – ein Graus!

      Auch in Amiels Beziehung zu den jungen Frauen seines Kreises zeigte sich eine deutliche Fehlhaltung. Anmutige und gescheite Töchter voller Herzensbildung wurden ihm vorgestellt; sie schieden aus, eine nach der anderen. Sara Cherbuliez, die Tochter eines Dozentenkollegen, hat «tieffarbene meergrüne Augen» und errötet sichtlich, wenn er sich zur Runde im Salon gesellt. Ein reizendes Mädchen, ein grundsolides, gebildetes und sympathisches Milieu ... aber: keine Mitgift! Die Pfarrerstochter Henriette Vaucher zeigt «liebenswerte Ehrlichkeit und bescheidene Güte», ist hübsch und vermögend ... aber: zahlreiche Gebrechen im Familienkreis, beunruhigende Erbanlagen! Im April 1858, nach zahlreichen Bekanntschaften, muss Amiel gestehen: «Ich bin praktisch unverheiratbar (in-mariable), weil ich eine ungeheure Abneigung gegen den Zufall hege.»

      Weshalb sollten wir uns befassen mit diesem wenig überzeugenden Dozenten und erfolglosen Poeten? Es war gerade die unbehagliche Stellung zwischen zwei Welten, die aus dem nach aussen hin so umgänglichen Junggesellen einen rabiaten Skeptiker und scharfen Beobachter seiner Umgebung machte, aber auch einen ewigen Zweifler und Zauderer. Ein grösseres kulturgeschichtliches oder philosophisches Werk, wie Amiel es zeitlebens von sich selbst verlangte, gelang ihm nicht. Dafür waren die Selbstzweifel zu mächtig, verschlang die Vorbereitung der Vorlesungen zu viel Zeit und Energie. Kam hinzu, dass er schon vor seiner Rückkehr nach Genf und erst recht von da an die Gewohnheit angenommen hatte, am Abend jedes Tages seine Eindrücke und Überlegungen schriftlich festzuhalten. Obwohl er sich selbst verdächtigte, in dieser Routine «einen Ersatz für das Leben zu suchen» und seine schöpferische Kraft in einen Nebenkanal abzuleiten, hielt er bis kurz vor seinem Tod an den täglichen Einträgen fest. Den Erben fiel ein Konvolut von 170 Heften zu, insgesamt 16’900 dicht beschriebene Seiten. Sie deckten die drei Jahrzehnte von der Jahrhundertmitte bis zu Amiels Tod praktisch lückenlos ab. Amiel selbst hatte die Papiere sorgfältig in Schachteln aufbewahrt, sie nummeriert und datiert und die Titelseiten mit Merksprüchen und Versen versehen. Bemerkungen und Verweise in den Seitenspalten zeugen davon, dass der Autor sein Journal intime immer wieder durchging, in den alten Heften blätterte, auch wenn er sich selbst oft dafür schalt, «ein Leben im Rückwärtsgehen» zu verbringen.

      Was ihm vorschwebte, war eine Art Digest, eine Blütenlese, die nach seinem Tod erscheinen würde. Könnte man, so wünschte er, von diesem hüfthohen Stoss von Seiten «deren 500 retten, so ist das viel, vielleicht genug». Genauso sollte es sich abspielen: 1883 brachte der einstige Freund Edmond Scherer, jetzt Redaktor in Paris, die Fragments d’un journal intime heraus. Es waren Tagebuchauszüge in zwei Bänden, über die Einträge von Jahrzehnten hinweg herausgepflückt, dazwischen gestreut Gedankensplitter und Aphorismen aus Amiels vergessenen Gedichtbänden. Die Fragments fanden auf Anhieb durchschlagenden Erfolg, wurden ein Dutzend Mal neu aufgelegt, in viele europäische Sprachen übersetzt. Nietzsche, Hofmannsthal und Gide priesen sie, Leo Tolstoi leitete eine russische Ausgabe in die Wege und fand in den Fragments Passagen «voller Leben, Weisheit, Lehrhaftigkeit und Trost». Sie würden, so Tolstoi im Vorwort, «für immer eines jener besten Bücher bleiben, die uns unverhofft hinterlassen wurden von Menschen wie Marc Aurel, Pascal, Epiktet». In gewissem Sinn erfüllten die beiden Bändchen die Forderung, die der Autor immer wieder an sich selbst gestellt hatte: ein die Generationen überdauerndes œuvre zu schaffen.

      Vor allem aber machten sich die Merksprüche selbständig, die Kernsätze und Aphorismen. Sie erschienen auf den Rückseiten von Kalenderblättern und in schmucken Almanachen – grosse Wahrheiten in kleiner Form, viele davon mit mahnendem, warnendem Unterton: «Das Schicksal hat zwei Möglichkeiten, uns zu zermalmen: indem es sich unseren Wünschen versagt – oder sie erfüllt.» «Der Mensch, der alles vollkommen klar sehen will, bevor er sich entscheidet, fasst nie einen Entschluss.» Die Hausfrau, die am Morgen das perforierte Kalenderblatt abtrennte, las vielleicht «Ein Irrtum ist umso gefährlicher, je mehr Anteile an Wahrheit er enthält», sinnierte womöglich über einem Ausspruch wie «Jede Landschaft ist ein Zustand der Seele – Un paysage quelconque est un état de l’âme». Vieles, was uns heute als redensartliche Formel erscheint, stammt aus dem Journal intime, beispielsweise «Man ist so alt, wie man sich fühlt». Ebenso das vielzitierte «Nichts ist so erfolgreich wie der Erfolg», das wir eher einem amerikanischen Manager-Handbuch zuordnen würden (Nothing succeeds like success). Amiel hielt die Einsicht im März 1868 fest, bezeichnenderweise an einem Tag, an dem er sich schlaff und unwohl fühlte: Rien ne réussit comme le succès. Von Amiel stammt auch das von Zivilisationsskeptikern vielfach übernommene und abgewandelte Wort «Tausend Dinge rücken vor, 999 machen einen Schritt zurück. Das nennt man Fortschritt». Selbstverständlich sind seine Aphorismen heute auch auf dem Internet abrufbar, unter Sparten wie Best Quotes Amiel oder Amiel Quotes and Sayings. Aus dem Selbstzweifler, dem schüchtern-charmanten Professor ist eine Art Guru geworden, ein Mann des knappen und präzisen Wortes.

      Heute liegt das Journal intime vollständig im Druck vor, in zwölf dickleibigen Bänden, nach einer verlegerischen wie wissenschaftlichen Parforcetour, die 1994 abgeschlossen wurde. Der Index gibt nur einen schwachen Eindruck der Themen, die Amiel im Verlauf der drei Jahrzehnte abhandelte, dies neben den gleichsam gesetzten Einträgen über die praktischen Tätigkeiten, über das tägliche va-et-vient. Ausführliche Passagen handeln von Religion, Philosophie, Politik, von der zeitgenössischen Genfer Gesellschaft, der Psychologie der Nationen, vor allem aber: vom Seelenleben des Autors selbst. Die tägliche Stunde am Schreibtisch erlaubte ihm, «allen Purzelbäumen und Bocksprüngen des inneren Lebens zu folgen», den Menschen zu studieren «anhand eines komplizierten Exemplars der Rasse» – seiner selbst. Dazu gehören Einsichten, die man heute der Tiefenpsychologie zuordnen würde. Amiel hielt zahlreiche Träume fest und interpretierte sie mit erstaunlichem Scharfblick für die Abläufe und Finten des Unbewussten. Manche Einsichten über die Mechanismen des Traums nehmen die Erkenntnisse von Freuds 1900 erschienener «Traumdeutung» vorweg – um Jahrzehnte.

      Das

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