Essentielle Verwirklichung. A.H. Almaas

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Essentielle Verwirklichung - A.H. Almaas

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von einem Teil von euch selbst erfahrt, und deshalb fühlt ihr da ein Loch. Deshalb ist es so schmerzhaft. Es fühlt sich an, als würdet ihr aufgeschnitten und etwas würde aus euch entfernt. Um das geht es bei der Wunde und dem Schmerz – dem Schmerz des Verlustes. Manchmal fühlt ihr euch so, als ob ihr euer Herz verloren hättet; manchmal habt ihr das Gefühl, daß ihr eure Sicherheit verloren habt, eure Stärke, euren Willen – je nach dem, welches Loch der andere Mensch für euch gefüllt hat. Manchmal vermittelt der andere euch Willen, gibt euch Stärke oder Unterstützung, oder Liebe oder Wert. Wenn ihr also einen Menschen verliert, der euch nahe war, fühlt ihr das Loch, was immer es war, das dieser Mensch gefüllt hat.

      Das ist es, was Menschen meinen, wenn sie sagen: „Wir passen zueinander.“ Jeder paßt in die Löcher des anderen. Dies paßt in dieses Loch; jenes paßt in jenes Loch; sie fühlen sich wie eins. Sie scheinen nicht länger getrennt zu sein. Aber wenn man sie trennt, dann bleiben da eine Menge Löcher. Wenn diese zwei Menschen zusammenleben, dann fühlen sie sich voll und vollständig. Sie ergänzen sich, sie bilden ein Ganzes. Aber ein anderer Mensch füllt selten alle eure Löcher. Ihr habt verschiedene Menschen, verschiedene Aktivitäten in eurem Leben, aber sie füllen doch nicht all eure Löcher. Es werden ein paar Löcher übrig bleiben, die das Gefühl aufrecht erhalten, unbefriedigt zu sein. Und natürlich werden Löcher nicht vollständig und perfekt gefüllt. In dem Moment, in dem sich der andere Mensch ein bißchen verändert oder etwas sagt, das euch ein schlechtes Gefühl gibt, spürt ihr das Loch, den Mangel: „Oh, im Grunde glaubt er gar nicht, daß ich etwas wert bin.“ Ihr seid wütend und verletzt, weil das Loch bloßgestellt wird. Das Gefühl, unbefriedigt zu sein, bleibt also, weil der andere eure Löcher nicht immer vollkommen füllt, besonders wenn er möchte, daß ihr seine Löcher füllt.

      S.: Wenn man Beziehungen verändert oder ein Mensch, der einem nahe steht, sich ändert, dann muß es auch eine Veränderung an den entsprechenden Löchern geben.

      A.H.: Richtig. Wenn es irgendeine Veränderung gibt, dann verändern sich auch die Löcher. Manche Löcher werden leer, manche werden gefüllt. Der andere muß sich anpassen, man muß seine Löcher auf eine andere Weise füllen, und das bedeutet gewöhnlich, daß man mit einigen dieser Löcher anders umgehen muß – ihre Anwesenheit fühlen und sie vielleicht verstehen.

      Wir können jetzt also eher verstehen, warum der Verlust von jemandem, der einem sehr nah, der sehr intim mit einem verbunden gewesen ist, so schmerzhaft ist. Nachdem man mit diesem Menschen lange Zeit zusammen gewesen ist, ist man so daran gewöhnt, zusammenzupassen, daß man glaubt, daß der andere ein Teil von einem selbst ist. Der Verlust dieses Menschen bedeutet einen Teil von sich selbst zu verlieren.

      Hier kommt ein anderer Faktor ins Spiel: wenn ihr Verlust und Trennung erlebt, dann habt ihr die Möglichkeit zu erkennen, daß das, was euch gefüllt hat, nicht wirklich ihr selbst wart. Wenn ihr bei der Verletzung und dem Schmerz des Verlustes bleibt, ohne zu versuchen, diesen Schmerz mit etwas anderem zuzudecken, dann ist es möglich, daß ihr die Leere fühlt, das Loch fühlt und erkennt. Wenn ihr euch dann erlaubt, den Mangel, die Leere zu fühlen, dann kann es sein, daß ihr den essentiellen Teil von euch selbst findet, der das Loch wirklich füllt, von innen her und ein für alle Mal. Es ist nicht einmal ein Füllen; es ist einfach die Beseitigung des Loches, der Schluß der Identifikation mit dem Mangel. Auf diese Weise gewinnt ihr einen Teil von euch selbst zurück. Ihr kommt mit dem Teil eurer Essenz in Kontakt, den ihr verloren hattet, und von dem ihr dachtet, nur jemand anders könnte ihn euch verschaffen.

      Das kann sehr schmerzhaft sein. Die meisten Menschen empfinden einen Verlust von Selbstwertgefühl, wenn eine Beziehung endet. Deshalb benutze ich gerade dieses besondere Beispiel des Selbstwertgefühls. Wenn ihr aber bei diesem Gefühl bleibt und aufmerksam seid und euch fragt: „Wieso fühle ich mich so wertlos, wieso fühle ich mich wie ein Nichts, nur weil dieser Mensch nicht mehr da ist? Warum habe ich das Gefühl, daß ich soviel weniger wert bin?“ Wenn ihr bei diesem Gefühl bleibt, ohne zu versuchen, es zu ersetzen, und nur aufmerksam seid und es zu verstehen versucht, dann werdet ihr den Mangel und das Loch erfahren. Wenn ihr diesen Mangel und seine Quelle versteht, dann könnt ihr euch vielleicht sogar an das bestimmte Ereignis oder das Muster von Ereignissen erinnern, das einmal zu eurem Verlust von Wert geführt hat.

      Ein Loch wird gewöhnlich mit einem Teil unserer Persönlichkeit gefüllt, der die Erinnerung an das enthält, was verloren wurde: die Erinnerung an die Situation, die zu dem Verlust geführt hat, die Erinnerungen an die Verletzungen und Konflikte. Wir müssen durch die Verletzung auf der tiefsten Ebene hindurchgehen, an das Loch selbst nahe herankommen, und dann werden wir die Erinnerung an das sehen, was verloren wurde. Wenn wir die Erinnerung sehen, an das, was verloren wurde, dann wird die Essenz, die verloren wurde, wieder zu fließen beginnen.

      Jeder tiefe Verlust ist also eine Gelegenheit zu wachsen, mehr von euch selbst zu verstehen, Löcher zu erfahren, von denen ihr glaubt, daß sie nur von jemand anders gefüllt werden können. Aber Menschen wehren sich gewöhnlich sehr dagegen, Verlust tief zu fühlen. Diese Abwehr hat vor allem den Sinn, zu vermeiden, das Loch zu fühlen. Man weiß nicht, daß das Loch, das Gefühl des Mangels, Symptom für den Verlust von etwas Tieferem ist, dem Verlust von Essenz, die wiedergewonnen werden kann. Man glaubt, auf der tiefsten Ebene wirklich das Loch, der Mangel zu sein, und daß es nichts darunter gibt. Man glaubt, etwas stimme nicht mit einem, daß mit einem grundsätzlich etwas nicht stimmt. Das Gefühl, daß etwas nicht stimmt, ist unbewußtes Wissen von der Präsenz des Loches, und man wird alles tun, um das Loch nicht zu fühlen, den Mangel wirklich nicht zu fühlen. Man glaubt, daß das Loch einen verschlingt, wenn man ihm nahe kommt. Wenn innere Arbeit einen zum Beispiel an das Loch von Liebe bringt, kann es sein, daß man sich von einer erschütternden Einsamkeit und Leere bedroht fühlt. Andere Löcher können das Gefühl drohender Vernichtung in den Vordergrund bringen. Kein Wunder, daß man ihnen nicht nahe kommen will! In unserer Arbeit hier aber haben wir etwas Überraschendes gesehen: Wenn wir aufhören, uns dagegen zu wehren, ein Loch zu fühlen, dann ist die wirkliche Erfahrung nicht schmerzhaft. Wir erfahren einfach leeren Raum, ein Gefühl, daß da nichts ist – aber nicht ein bedrohliches Nichts – sondern eine Weite, ein Zulassen. Diese Weite macht möglich, daß Essenz auftauchen kann, Essenz und nur Essenz kann das Loch, diesen Mangel von innen heraus beseitigen.

      S.: Kann ein Loch sich als Wut manifestieren?

      A.H.: Ja. Ihr könnt Wut als Wirkung des Mangels empfinden, besonders als Abwehr dagegen, ein Loch zu fühlen. Die meisten Gefühle, besonders die, die automatisch wie unter Zwang auftauchen, sind die Wirkung von Löchern. Wenn es keine Löcher gibt, gibt es auch keine solchen Emotionen. Welche sind diese Emotionen? Es gibt Trauer, es gibt Verletztheit, es gibt Eifersucht, Wut, Haß, Angst. Alle sind die Wirkung von Löchern. Wenn ihr keine Löcher habt, habt ihr keine dieser Emotionen. Dann habt ihr nur Essenz. Deshalb werden solche Emotionen auch manchmal Leidenschaften oder falsche Gefühle oder Pseudogefühle genannt.

      Unsere ganze Gesellschaft ist daraufhin orientiert, uns zu lehren, daß wir unseren Wert von außen bekommen, um unsere Löcher zu füllen – daß wir Wert, Liebe, Stärke, usw., von außen bekommen. Wir sprechen davon, wie wunderbar es ist, etwas für andere Menschen zu tun oder sich zu verlieben oder einen sinnvollen Beruf zu haben – solche Dinge. Die Gesellschaft ist überhaupt so organisiert, daß Menschen gegenseitig ihre Löcher füllen. So ist die Zivilisation eingerichtet – um das Füllen von Löchern herum. Zivilisation, wie wir sie kennen, ist ein Produkt der falschen Persönlichkeit. Sie ist das Produkt der falschen Persönlichkeit und sie ist das Zuhause der falschen Persönlichkeit. Sie unterhält und nährt die falsche Persönlichkeit.

      S.: Ist das immer schon so gewesen?

      A.H.: Ich glaube nicht. Ich glaube, daß es schrittweise so geworden ist. Ich glaube, daß es eine gewisse Zeit gedauert hat, bis die falsche Persönlichkeit der Zivilisation so dominierend werden konnte. Je mechanischer wir werden, um so mehr geht es in der Kultur darum, Löcher zu füllen. Viele sagen, daß es in der Vergangenheit mehr Liebe und Präsenz gegeben hat, mehr Anerkennung der Realität, mehr Essenz,

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