Wackernells Visionen. Leo Hillebrand

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Wackernells Visionen - Leo Hillebrand

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drohe der Einheit ein Gemetzel, womöglich würde niemand überleben. Die Südtiroler sollten sich daher ohne Aufhebens zurückziehen. Dies lehnte Schrott mit dem Hinweis auf die eindeutige Befehlslage ab. Zu einer weiteren Zuspitzung der Situation kam es, als die Partisanen Wind von der Anwesenheit der Polizeieinheit bekommen hatten. Sie warfen Wackernell und seinen Kollegen Verrat vor. Wackernell schaltete nun den Bürgermeister von Forno ein und es kam zu hektischen Verhandlungen. Die Lösung brachte schließlich Wackernells Vorschlag, bei seinem Vorgesetzten in Rovereto, Rücke, in der Sache zu intervenieren. Tatsächlich gelang mit dem Hinweis, der Polizeieinsatz gefährde die Vermessungen und damit die zeitgerechte Umsetzung des V2-Projektes, eine Rücknahme des Befehls. Daraufhin zog die Südtiroler Einheit ohne weitere Zwischenfälle wieder ab. Wackernell sprach im Allgemeinen überaus uneitel über seine Projekte und Verdienste. Kam er hingegen auf diese Episode zu sprechen, verlieh er ohne falsche Bescheidenheit seiner Überzeugung Ausdruck, durch sein entschlossenes Eingreifen zahlreiche Menschenleben gerettet zu haben.

      Über Umwege nach Hause

      Nach diesem Zwischenfall kehrten Wackernell und Höllrigl mit den deutschen Ingenieuren in das OT-Hauptquartier nach Rovereto zurück. Dort war man von der Arbeit der beiden Südtiroler angetan und entließ sie nach Hause, um ihnen im Sommer 1945 das Ablegen der Kriegsmatura zu ermöglichen. Zurück in Meran erfuhr Wackernell unmittelbar, dass der „totale Krieg“ auch Südtirol erreicht hatte. Als er zu Hause die Türglocke betätigte, blieb diese stumm. Als alles Rufen auch nicht half und ihm niemand die Tür öffnete, zog er seine Pistole und feuerte seine einzigen Schüsse während des Krieges ab. Endlich hörten ihn seine Eltern und öffneten die Tür. Aufgrund der Verdunkelungsmaßnahmen wurde in Meran nämlich abends der Strom abgeschaltet, weshalb die Glocke nicht mehr funktionierte. Wackernell begab sich gleich nach der Heimkehr in die Schule nach Wolkenstein. Auch hier hatte der Krieg unübersehbar seine Spuren hinterlassen. Mit dem herkömmlichen Unterricht war es nicht weit her. Vielmehr trainierten die Jungen das Ausheben von Schützengräben oder das Schießen auf Skiern. Ernst wurde die Situation, als ein Lastwagen voller Waffen und Munition vor der Schule vorfuhr. An die Schüler erging die Aufforderung, sich zum Sellajoch zu begeben und dort die anrückenden Amerikaner zu bekämpfen. Dabei priesen die deutschen Instrukteure die Vorzüge der angeblichen „Wunderwaffe“ Panzerfaust an. Die Gruppe um Wackernell lehnte einen solchen Einsatz allerdings kategorisch ab. Sie war von einer Gruppe von Deserteuren gewarnt worden: Mit Panzerfäusten gegen die US-Armada etwas ausrichten zu wollen, sei das reinste Himmelfahrtskommando. Die amerikanische Panzertruppe hätte eine Strategie entwickelt, ihre Fahrzeuge einfach auf den Schützengräben zu drehen und die Gegner lebendig unter sich zu begraben. Das ließen sich die Jungen nicht zweimal sagen, setzten sich nach und nach aus der Schule ab und traten die Flucht nach Hause an. Ungefährlich war das nicht: Auf den Straßen patrouillierte die Feldgendarmerie auf der Suche nach Deserteuren, die sich ebenso wie bereits vom Süden zurückflutende Wehrmachtseinheiten nach Norden durchschlagen wollten. Die Schüler galten zwar als Zivilisten, hätten sich aber nicht von der Schule entfernen dürfen. Wackernell meldete sich denn auch mit der Bitte beim Direktor ab, keine Suchaktion zu starten. Auf der Treppe traf er auf einen der fanatischsten Nazis an der Schule, Prof. Stärkele. Auf Wackernells „Auf Wiedersehen!“ antwortete dieser barsch mit einem „Heil Hitler!“, aber dabei blieb es auch. Die Vertreter des Regimes hatten offensichtlich resigniert. Da Straßen viel zu gefährlich waren, nahm Wackernell den Weg über die Berge. Über den Tschögglberg gelangte er schließlich in zwei Tagen nach Meran. Dort traf er seine Eltern unversehrt wieder, auch der Großvater hatte den Krieg überstanden. Zu diesem erfreulichen Umstand gesellte sich freilich ein Wermutstropfen: Aus der Kriegsmatura wurde nichts. Dafür hatte der Krieg zwei Monate zu früh geendet.

      Aufbruch zu neuen Ufern

      Das Frühjahr 1945 bedeutete auch für Norbert Wackernell einen Neuanfang. Er hatte den Krieg zwar äußerlich unversehrt überlebt, das Ereignis prägte ihn jedoch ein Leben lang. Vor allem wirkte die Angst nach, gegen Kriegsende doch noch zum aktiven Militär eingezogen zu werden. Wie schmal die Grenze zwischen Leben und Tod war, erfuhr er in den letzten Kriegsmonaten wiederholt. Als Beispiel führte er eine Episode um seinen späteren Schwager Florian Putzer aus St. Pauls an. Putzer stand in enger Verbindung zu SS-Sturmbannführer Karl Nicolussi-Leck, der ihn, so vermutete Wackernell, wohl auch vor dem Kriegsdienst bewahrt habe. Dafür verpflichtete sich der junge Paulser, „Freiwillige“ zu rekrutieren. So tauchte er auch bei Wackernell mit einem Formular auf, das dieser unterfertigen sollte: die Beitrittserklärung zur SS. Wohl nicht zuletzt das in der Familie vorhandene Misstrauen gegenüber politischen Organisationen bewahrte Wackernell vor einem fatalen Fehltritt. Obwohl er eigenen Aussagen zufolge damals nicht in der Lage war, die SS als Organisation klar zu verorten, lehnte er ab. Die Richtigkeit seiner Entscheidung wurde ihm bald drastisch vor Augen geführt: Zwei Buben vom nahen Stemmerhof unterschrieben – und kehrten beide nicht mehr aus dem Krieg zurück. Aufgrund solcher Erfahrungen sah der junge Wackernell nach Kriegsende nicht frohen Mutes einer friedlichen, harmonischen Zukunft entgegen, sondern er blieb von tiefer Skepsis geprägt. Diese kam vor allem in seiner Einstellung zum Ausdruck, es sei nur eine Frage der Zeit, bis es zum nächsten bewaffneten Konflikt käme. Der bald folgende Kalte Krieg schien diese Haltung zu bestätigen. Erst mit der zunehmenden politischen Entspannung zwischen Ost und West Anfang der 1970er-Jahre blickte auch Wackernell optimistischer in die Zukunft. Seine anfängliche Zukunftsskepsis wurde freilich überlagert von den unmittelbar drängenden Fragen des Lebens wie der Fortsetzung seines Bildungsweges. Weil er die Kriegsmatura nicht mehr absolvieren konnte, schrieb er sich ins Wissenschaftliche Lyzeum ein, um die Abschlussprüfung nachzuholen. Zuvor galt es, im Herbst 1945 eine Aufnahmeprüfung zu schaffen, die es in sich hatte. Obwohl Wackernell den ganzen Sommer hindurch lernte, bestand er nur knapp. In der Folge lief dann alles wie geplant: Er absolvierte das Schuljahr und bestand im Sommer 1946 die Matura. Auch der Weg danach war vorgezeichnet. Obwohl sich die Eltern nie in Schul- und Studienfragen einmischten und allenfalls der Großvater ihm öfters eine Zukunft als Ingenieur prophezeit hatte, war die Entscheidung klar: Er schrieb sich am Mailänder Politecnico in das Fach Hoch- und Tiefbau ein. Doch ein Studium nach dem Krieg – das war leichter gesagt als finanziert. Auch für eine Familie des gehobenen Mittelstandes stellte es in der Nachkriegszeit eine materielle Herausforderung dar. Ein Ereignis drohte Wackernells Studienpläne abrupt zunichtezumachen. 1947 ging der Meraner Banco di Roma pleite, eben jene Bank, bei der die Familie ihr gesamtes Barvermögen deponiert hatte. Nur ein Glücksfall rettete die Situation. Der Direktor der Meraner Filiale war ein Jagdfreund des Vaters. Er präsentierte sich eines Nachts an der Haustür und teilte den verdutzten Eltern mit, im mitgebrachten Koffer befinde sich deren gesamte Einlage. Morgen melde die Bank nämlich Konkurs an. Es war eine illegale Handlung. Norbert Wackernell aber rettete sie das Studium.

      Student in Mailand

      Das Studium in Mailand begann Wackernell zusammen mit seinem Spezi aus Schul- und Kriegszeiten, Bernhard Höllrigl. Die beiden Jungen bezogen eine Privatwohnung. Bereits im ersten Studienjahr legte sich Wackernell dermaßen ins Zeug, dass er Anrecht auf ein Begabtenstipendium erhielt. Das inkludierte einen kostenlosen Heimplatz in der Casa dello Studente, wo der junge Meraner den Rest der Studienzeit zubrachte. Die Auswirkungen des Krieges waren noch überall sichtbar und spürbar. Wackernell erinnerte sich etwa an das eigenartige Fleisch, das in der Heimmensa ausgegeben worden sei: die, wie es im despektierlichen Studentenjargon hieß, „tette delle vacche“. Aus Spargründen kaufte die Mensa vornehmlich Euterfleisch, das sich beim Drücken mit der Gabel als noch deutlich milchhaltig erwies. Getreu seinem Credo trat Wackernell keiner Studentenorganisation bei, auch nicht dem bereits bestehenden „Bund der Südtiroler Hochschüler.“ Ansonsten hielt er durchaus Kontakt mit anderen Studenten aus Südtirol. So erinnerte er sich an den gleichaltrigen Roland Riz sowie an etliche Pusterer. Besonders ausgelassen war die Studentenzeit damals freilich nicht. Speziell das Studium am Politecnico war Knochenarbeit, die Paukerei Normalzustand. Viele Studienanfänger, so Wackernell, seien gescheitert, andere hätten sieben, acht Jahre zum Abschluss benötigt. Er absolvierte das

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