Forschen. Niklaus Meienberg
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Rupp interessiert sich heute für Geschichte und Poesie, auf dem Schreibtisch ein Buch von Rilke, dann auch einige kommerzielle Aktivitäten, er arbeitet noch halbtags. An die Gesichter und Namen der kommandierten Füsiliere kann er sich nicht erinnern. «Ich habe vieles vergessen, das kommt von der Arterienverkalkung, darum habe ich auch aufgeschrieben, was ich noch wusste.» Er fährt mit mir zum Richtplatz, der sehr idyllisch in einem Tälchen liegt, sehr ruhig in der Morgensonne. Er heisst mich stillstehen, nimmt sieben Schritt Abstand, grosse ausgreifende Schritte, macht rechts um, kehrt, sagt: Hier sind die Füsiliere gestanden, dort der Grossrichter; wo Sie jetzt stehen, waren die Delinquenten angebunden. «Das Kommando war noch nicht verklungen, als ein einziger Knall die bedrückende Stille durchschnitt und die Körper von Zaugg und Schläpfer in die haltenden Stricke sackten», heisst es in Rupps Denkschrift. An diesem Sonntagmorgen ist die Stille gar nicht drückend. In weiter Ferne hört man Schüsse, aber sie kommen aus einem Schiessstand.
*
«Schüssed Si los», sagte Oberst Koller, der ehemalige Vorgesetzte Rupps, damals Sekundarlehrer im Zivil, der in seiner Wohnung in L. sitzt und Auskunft gibt.* * Vgl. auch «Sprechstunde bei Dr. Hansweh Kopp», in «Der wissenschaftliche Spazierstock». Koller ist ein bekannter Politiker im Ruhestand, alt Stadtpräsident, Vorsitzender eines Kulturvereins, hat sich um die Förderung der schweizerischen Bühnenkunst verdient gemacht. Er hat alle Exekutionsakten in einem Ordner aufgehoben. Unaufgefordert übergibt er mir die Kopien einiger Vollzugsakten, auch einen Originalzettel mit dem Exekutionsprogramm, den er an jenem Morgen in der Hand hielt. Stolz erklärt Oberst Koller die «minuziöse Vorbereitung» und die «reibungslose Abwicklung». Auch er sagt: Es war eine saubere Exekution. Er habe sich noch lange mit dem Sanitätsoffizier darüber unterhalten, wo gegebenenfalls der Fangschuss erfolgen müsse: in den Mund, in die Schläfe, den Nacken oder die Stirn. Man habe die Frage offengelassen, und es sei dann auch alles gutgegangen. Koller befürwortet auch im Zivilleben die Todesstrafe: Wohin kommen wir sonst mit unserer Humanitätsduselei? Nach der Exekution von Zaugg und Schläpfer, als alles gutgegangen war, die Mannschaften den Platz schon verlassen hatten und er mit einigen Offizieren zurückgeblieben war, hat er aufgeschnauft und eine Zigarette geraucht. Die beste Zigarette meines Lebens, sagt er. Während er rauchte, hörte er gedämpften Soldatengesang, es war das Lied «Eine Kompanie Soldaten, wieviel Freud und Leid ist das». Oberst Koller muss man keine Fragen stellen, es sprudelt freiwillig hervor.
Im Ordner die Protokollakten: Der Regierungsrat X. von Zauggs Heimatkanton und der Regierungsrat Y. des Erschiessungskantons, welche protokollarisch das Recht zur Anwesenheit auf dem Richtplatz haben, verzichteten auf diese Anwesenheit. Auch die Verteidiger wollten nicht beiwohnen. Dann die pathologisch-anatomische Diagnose (die Leichen wurden sofort seziert): Hinrichtung durch Erschiessen. 17 Treffer. 6 Kopfschüsse, 11 Brustschüsse, Sprengung der Schädelkapsel, Schädelbasisfrakturen, weitgehende Zertrümmerung des Gehirns, Schädelschwartenriss, Abriss des linken Ohrläppchens, Zertrümmerung der Brustwirbelsäule, Paravertebrale Frakturen der 2. bis 6. Rippe, 3 Herzdurch- und -streifschüsse, Zerreissung des Herzbeutels, beider Lungenoberlappen und des linken Lungenunterlappens, mehrfache Durchtrennung der Brustschlagader. Hämothorax duplex, zwei Rachenwanddurchschüsse, Zertrümmerung des rechten Humeruskopfes, vacuoläre Depression der Leber.» Signiert: Professor K., eine Kapazität auf dem Gebiet der Pathologie. Dann ein Brief vom protestantischen Pfarrer der Heimatgemeinde Zauggs (eines Dorfes im Emmental): «… dass verschiedene Geschwister nicht einverstanden sind, dass man die Asche Ferdinands ins Grab der Eltern lege, denn das würde dieses Grab der Eltern schänden. Sie können sich gar nicht auf die Tatsache stellen, dass es eine göttliche Vergebung gibt, unter die wir uns selbst dann zu beugen haben, wenn eine weltliche Gerichtsbarkeit keine Gnade mehr geben kann, wie es in diesem Fall wohl geschehen muss.» Die Asche Zauggs und die Leiche Schläpfers kamen dann, weil die Angehörigen sie nicht haben wollten, auf einen Friedhof der Innerschweiz.
*
Kurt Holliger in Burgdorf ist Schützenkönig und Metzgermeister. Eine Mietwohnung am Stadtrand, ähnlich eingerichtet wie die Wohnung der Frieda Schläpfer, ziemlich einfach. Holliger sagt: Wir haben nicht gesungen, das hat sich der Oberst eingebildet. Das sei wieder typisch für Koller. «Üseri Offiziere sy komischi Type gsy», der Koller ein richtiger Protz, ein bissiger Hund. «Mir händ si ghasst wie Pescht.» Die waren nicht wie Menschen, immer kaltschnäuzig. Am Abend, als sie die Erschiessung im Schlachthaus trainieren und auf den Oberleutnant Meinhold anlegen mussten, hätte er am liebsten auf diesen geschossen, um diesen Hund wäre es weniger schade gewesen als um den Johann Schläpfer.
Einer aus dem Peloton habe bei dieser Zielübung im letzten Moment gemerkt, dass eine richtige Kugel im Lauf sei, und habe sie leider entfernt, sonst wäre der Meinhold abgekratzt, da er ihnen so schön die Brust hinstreckte. Gott sei Dank habe er nicht auf den Johann Schläpfer zielen müssen, der ein lieber Kerl gewesen sei, sondern auf die Brust vom Zaugg, der weniger sympathisch war. Auch war Zaugg in der Kompanie als deutschfreundlich bekannt, und damals habe man die Deutschen und ihre Freunde wahnsinnig gehasst, weil sie ihretwegen die Geschäfte zu Hause im Stich lassen mussten. So sei das Schiessen leichtergefallen. Aber trotzdem habe er sich oft gefragt, ob das damals richtig gewesen sei und ob man nicht auf ganz andere Leute hätte schiessen sollen, da waren noch ganz andere Vaganten herum. Nur eben, damals hat der Staat einfach über die Leute verfügt, man führte die Befehle aus. Holliger hat nicht gewusst, dass bei einigen der Schuss nicht losging, sie haben nie darüber gesprochen, sie mussten Geheimhaltung versprechen und wurden von der Heerespolizei nachher bespitzelt. Keiner vom Peloton habe geschlafen in der Nacht vorher. Er habe von Jahr zu Jahr mehr Zweifel, ob es die Richtigen getroffen habe, schliesslich, was könne so ein Fourier schon für wichtige Geheimnisse verraten, verglichen mit einem Obersten.
Eine saubere Exekution? Das könne man eigentlich nicht sagen. Auf jeden Fall nicht sauber für die Soldaten, die Schläpfer und Zaugg einsargen mussten. Die Gesichter aufgedunsen, wie von vielen Wespenstichen. Man habe den beiden ihren Ceinturon etwas höher als sonst gegürtet, damit die Soldaten genau 10 Zentimeter weiter oben visieren konnten, wo sich das Herz befand. Die vordere Schützenlinie hingegen musste auf den Mund zielen. Als sie schon die schwarze Binde über den Augen hatten und ihnen alle Knöpfe an der Uniform abgeschnitten waren, damit das Abprallen der Kugeln vermieden wurde, taten die Feldprediger ihren letzten Zuspruch. Zaugg habe keinen Mucks gemacht, also sagte Pfarrer Hürlimann an seiner Stelle: Herr, ich sühne meine Sünden. Der katholische Feldprediger hingegen habe noch gemeinsam mit Schläpfer ein Vaterunser gebetet. Dann habe es geklöpft. Gleich nachher sei es ans Härdöpfelrüsten