Es ist kalt in Brandenburg. Niklaus Meienberg
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Über dieses Buch
Maurice Bavaud, geboren 1916 in Neuenburg, technischer Zeichner und Theologiestudent, kam aus bescheidenen Verhältnissen. Der Vater war Pöstler, die Mutter führte einen Gemüseladen. Katholisches Milieu, sechs Kinder, Vertrauen in Kirche und Staat. Als Maurice Missionar werden wollte, war die Familie stolz. Er besuchte die Missionsschule Saint-Ilan in der Bretagne und kam von dort mit dem Plan zurück, Hitler umzubringen.
Im Berliner Gefängnis hat ihn zweieinhalb Jahre lang niemand besucht. Der Schweizer Gesandte in Berlin, Frölicher, wollte ihn am liebsten vergessen, er nannte den Attentatsversuch «ein verabscheuungswürdiges Verbrechen».
«‹Es ist kalt in Brandenburg› schrieb Meienberg nach dem Film. Das ist kein Materialbuch, kein Buch übers Filmen, auch keine Dokumentation eines Attentats, obwohl Meienberg sehr genau dokumentiert. Meienbergs Sprache schafft eine neue Stufe der Beteiligung. Präzise ist sie und klar, zurückhaltend, trocken (nie vernebelnd), schön.» Süddeutsche Zeitung
Niklaus Meienberg 1979.
Foto Walter Rutishauser/Bibliothek am Guisanplatz, Sammlung Rutishauser
Niklaus Meienberg (1940–1993), Historiker, Schriftsteller und Journalist. Er erfand die Reportage neu und dichtete ungeniert mit dem überlieferten Material europäischer Lyrik. Mit seinen Texten zur Zeitgeschichte war er ein grosser Streiter, dessen «Sprachgewalt» auch seine Feinde bewunderten. Wie kein zweiter hat sich Niklaus Meienberg der Öffentlichkeit ausgesetzt, seine ganze Person hat er in seine Texte eingebracht, und mit seiner ganzen Person ist er für sie eingestanden.
«Für mich ist Meienberg vor allem ein grosser Prosaautor. Wo diese Prosa schliesslich erschienen ist, das ist gleichgültig. Das ist ähnlich wie bei Heine. Heinrich Heine hat einen grossen Teil seines Werks für Zeitungen geschrieben. Das gehört heute zur verbindlichen deutschen Prosa.» Peter von Matt
Niklaus Meienberg
Es ist kalt in Brandenburg
Ein Hitler-Attentat
Limmat Verlag
Zürich
Reisen
Ici, dans le Brandebourg, c’est l’hiver perpétuel.
Il pleut, il fait froid. Et en Helvétie?
Hier, in Brandenburg, herrscht ein ewiger Winter.
Es regnet, es ist kalt. Und in der Schweiz?
(aus einem Brief von Maurice Bavaud,
22. August 1940, geschrieben in Berlin-Plötzensee)
Das Essen sei saumässig gewesen, ein Saufrass, und er habe sich den Magen dabei verdorben und später eine Magenoperation gehabt deswegen, und sei der Magen nicht mehr richtig genussfähig geworden, weil die Internatskost ihn endgültig zerstört habe, der Abscheu vor dem damaligen Essen sitze ihm noch tief in der Magengrube heute, und werde wohl niemals mehr ganz daraus verschwinden, das Essen sei recht eigentlich eine Strafe gewesen, man habe sich, auch bei knurrendem Magen, gefürchtet vor den Mahlzeiten und sich regelrecht zwingen müssen zur Nahrungsaufnahme, und trage er also ewig in seinen Kutteln herum die Erinnerung an die Missionsschule von Saint-Ilan in der Bretagne, und sein Magen werde sich bis ins Grab daran erinnern, sagt Louis Bernet in Estavayer-le-Lac, der Mercerieladenbesitzer, bevor er seine, mit hunderterlei Strickwaren und wollenem Tand bis zur Decke gefüllte, Mercerieboutique verriegelt und sich empfiehlt und in den obern Stock geht; zum Mittagessen.
Er ist nicht, wie ursprünglich geplant, Missionar geworden, sondern Mercerieladenbesitzer in dieser kleinen Stadt, und ist auch kein Attentäter geworden wie Maurice Bavaud, mit dem er die gleichen Schulbänke abgewetzt hat in Saint-Ilan; und niemand schreibt seine Biographie, sein Territorium ist der Mercerieladen, und der wäre vielleicht auch einen Roman wert. Hingegen schreiben alle über Maurice Bavaud; manche machen sogar einen Film über ihn.
Was wäre aus dem jugendlichen und schönen Maurice geworden, mussten wir in Estavayer-le-Lac denken, wenn er nicht in Plötzensee sein Leben verloren hätte. Er ist schon lange tot und doch lebendiger geblieben als seine Mitschüler, zeitlos-ewig-jung und kann nicht altern. Sein Leben hat sich in einer kurzen Spanne verdichtet und zusammengedrängt, und jeder Tag davon wird mit der Lupe untersucht; staubsaugende Historiker und andere Forscher sind auf der Jagd nach seinen Aufsatzheften, Briefe werden durchleuchtet, Gefängnis- und Hotelregister geprüft, die Zellen besucht, in denen er gesessen hat, die Schulkameraden befragt, die Familie auskultiert, der Ort eruiert, wo seine sterblichen Überreste liegen, kurzum:
eine Persönlichkeit.
Tot ist einer erst, wenn sich niemand mehr an ihn erinnert. Auch Bavaud war lange tot, geköpft, gestorben und begraben, wiederauferstanden von den Toten erst nach langer Zeit. Das Andenken an ihn war von Staats wegen ausgemerzt gewesen, keine Spuren durften in der Öffentlichkeit erscheinen, die Erinnerung an ihn war lange Zeit so störend wie er selbst. Jetzt ist er wieder da, aber ein bisschen spät. Notizen, Tonbänder, Bilder, Fotos, Gesprächsfetzen, Dokumente, Gefühle, Dossiers, belichteter Film. Der Aushub häuft sich. Wir haben ein paar Jahre lang versucht, seine Spuren zu sichern, sind ihm nachgereist durch vier Länder und in verschiedene Vergangenheiten und Archive hinunter, Villi Hermann, Hans Stürm und ich.
Hans Stürm und ich sind katholischen Ursprungs und mit Internatsvergangenheit behaftet wie Maurice, sind wir doch beide in der Klosterschule D. eingeweckt gewesen, ich länger als Hans, so dass uns im Laufe der Erinnerungsarbeit die sauren Brocken der eigenen Vergangenheit wieder aufgestossen sind, aber auch die süssen Brocken, wir gehörten, und im Herzensgrund gehören wir vielleicht noch immer, zur katholischen Internationale und sind alle drei, Maurice, Hans und ich, an Fronleichnam hinter der Monstranz hergetrippelt und haben gesungen dabei O SALUTARIS HOSTIA
(– während Villi Hermann als Protestant von all dem nichts abbekommen hat –).
Und auch Roger Jendly aus Fribourg, der in unserm Film die Rolle von Bavaud vorzeigt, ist katholisch imprägniert worden im Collège Saint-Michel und man weiss, dass in Saint-Ilan (Bretagne), Fribourg und Disentis (Graubünden) derselbe lateinisch-gregorianische Choral praktiziert wurde, derselbe Saufrass kam auf den Tisch, und während wir Louis Bernet und seine Ess-Erinnerungen protokollieren, steigt der Geruch des Ess-Saals der Klosterschule D. ins Bewusstsein, und man hört die Mitschüler wütend mit den Löffeln auf die Tische trommeln und sieht sich selbst die immer gleichen tranigen Würste – ach, der unvertilgbare Geschmack dieser fettgeschwängerten Würste in unserem Internatsgaumen – klatschend auf den Tisch schmettern vor Wut und hört die eigene Stimme von weither skandieren SAUFRASS SAUFRASS SAUFRASS SAUFRASS
bis der Präfekt, so nannte man die schwarzberockte Aufsichtsperson, in Saint-Ilan hiess er Préfet de discipline, energisch die Glocke schwenkte und wir, nachdem das Schweigen, respektive das silentium, wie man sagte, augenblicklich eingekehrt war, in die Kirche hinunter trippelten und dort zur Vesper sangen
MAGNIFICAT ANIMA MEA DOMINUM;
meine Seele preist den Herrn.
***
Wer filmt, nähert sich der Geschichte anders als wer schreibt. Es geht nicht ohne Augenschein. Man muss die Örtlichkeiten abschreiten, Augen brauchen, Ohren, bevor Kamera und Tonband die Arbeit beginnen. Man kann sich nicht damit begnügen, ein Buch über Plötzensee, wo Maurice Bavaud gefangen war, zu exzerpieren, man sollte die Zelle sehen und ausleuchten