Reisen. Niklaus Meienberg

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Reisen - Niklaus Meienberg

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      Über dieses Buch

      Sie machten Furore, die Reportagen Meienbergs, erregten Aufsehen, wurden viel gelesen und diskutiert. Sie waren genau recherchiert, dramaturgisch sorgfältig gebaut und brillant geschrieben, ihr streitlustiges Engagement fuhr wie ein frischer Wind in den prätentiös-bildungsbürgerlichen Mief der Feuilletons, und bis heute haben sie ihre Frische bewahrt.

      Der Inhalt dieses E-Books entspricht dem Kapitel «Reisen» aus Band 2 der Reportagen, ausgewählt und zusammengestellt von Marianne Fehr, Erwin Künzli und Jürg Zimmerli, Limmat Verlag, Zürich 2000:

      Blochen in Assen, und auch sonst

      Châteaux en Espagne

      Liverpool

      Rue Ferdinand Duval, Paris 4e

      Ratten

      Die Rue de Juifs ist stiller geworden

      Die Fische von der Rue Saint-Antoine (auf dem Trockenen)

      Das Judengerücht von Amiens

      Ein langer Streik in der Bretagne

      You are now entering Benjamin Franklin Village

      Im Strudel von Algier

      Wargasm on Constitution Avenue

      Foto Roland Gretler

      Niklaus Meienberg (1940–1993), Historiker, Schriftsteller und Journalist. Er erfand die Reportage neu und dichtete ungeniert mit dem überlieferten Material europäischer Lyrik. Mit seinen Texten zur Zeitgeschichte war er ein grosser Streiter, dessen «Sprachgewalt» auch seine Feinde bewunderten. Wie kein zweiter hat sich Niklaus Meienberg der Öffentlichkeit ausgesetzt, seine ganze Person hat er in seine Texte eingebracht, und mit seiner ganzen Person ist er für sie eingestanden.

      Niklaus Meienberg

      Reisen

      Ausgewählt und zusammengestellt von Marianne Fehr, Erwin Künzli und Jürg Zimmerli

      Limmat Verlag

      Zürich

      Blochen in Assen, und auch sonst

      Für André Pieyre de Mandiargues

      «Das einzig Starke an Dir

      ist Deine Moto-Guzzi

      Aber sonst bist du ja

      so ein Fuzzi»

      Udo Lindenberg

      Das greift so seltsam ans Herz, wenn man diese lederverpackten rasenden Typen unter den mittelalterlichen Topfhelmen, kauernd auf ihren Maschinen mit angezogenen Beinen wie der Fötus im Mutterbauch, mit 260 Stundenkilometern über die Rennbahn von Assen blochen sieht hört riecht spürt.

      In Daytona Beach geht’s noch schneller, dort fetzen die schweren Siebenhundertfünfziger mit 330 km/h, aber 260 ist auch ein Erlebnis, wenn man’s noch nie gesehen hat und selbst nie über 190 hinausgekommen ist auf einer Serienmaschine. Es sind Fünfhunderter, 500-Kubik-Maschinen, welche diese Spitze erreichen, aber vielleicht sind es auch 280 km/h, auf den Kilometer genau weiss man das nicht, die haben keinen Geschwindigkeitsmesser, nur einen Tourenzähler aufmontiert, damit der Fahrer weiss, bis in welche Höhen er den Motor hinauftreiben soll, bevor es ihn verjagt.

      Wie der Agostini wieder vorbeigeschletzt ist in der zehnten Runde an der Zieltribüne auf seiner bärenhaft dumpf brummenden MV-Agusta mit ihrem Orgelton, die so vorteilhaft kontrastiert mit den japanischen Heulern (Suzukis, Yamahas)! Die sind ihm auf den Fersen, aber er hat das Feld schon in der zweiten Runde abgehängt, König Ago, wie sie ihn nennen, lässt keinen an sich herankommen, Präludium und Fuge über das Thema Kurvenschneiden, Präzisionsarbeit in der Schräglage, da kann man allerhand lernen für den eigenen Gebrauch, die Schätzungen gehen auseinander und schwanken zwischen 50 und 60 Grad Neigung in den Kurven, und wie er das wieder gemacht hat dort in der S-Kurve, wo er zuerst ganz links aussen, zwei Zentimeter vom Pistenrand, hart neben der Grasnarbe, die Maschine tief zu Boden drückte, mit abgewinkeltem linkem Knie, sie dann wieder emporriss, die Mitte der Rennbahn anvisierte, ganz kurz senkrecht stand und sich darauf nach rechts fallen liess, mit abgewinkeltem rechtem Knie in die Rechtskurve fegte, wumm!, und dabei die Verschalung und ein Auspuffrohr den Boden kratzten, wahrscheinlich auch die ledergeschützte Kniescheibe, ein hartes schnelles Knirschen, aber Agostini schon wieder aufgerichtet, Agostini fest im Sattel, dann stark fötal gekrümmt auf der Zielgeraden mit Vollgas, fünfter, sechster, siebenter Gang, wie der schaltet mit seinem hurtigen italienischen Fuss, ein König, begleitet von Musik aus den Lautsprechern, die den ganzen Parcours säumen, aber die Musik hört er nicht: I CAN’T GET NO SATISFACTION. Die Auspuffe, welche nach hinten aggressiv in die Luft stechen wie Maschinengewehre oder geil aufgestellte Schwänze, verbreiten eine Bewölkung aus Benzin und Rizinusöl, das dem Rennöl zur Leistungssteigerung beigemischt wird, wovon die Zuschauer nicht genug haben können: günstige Anästhesie, die den Lärm verdauen hilft, nochmals gut durchatmen, das begast die Nerven und hilft, die permanent hundertzwanzig und mehr Dezibel vier Tage auszuhalten.

      Noch ein Schluck! Genug ist nicht genug! Die Gase, zusammen mit Hitze, Lärm und Musik, speeden die Zuschauer in einen höheren Zustand hinauf. I DO WHAT I WANT ist jetzt die Melodie, und SAY GOODBYE IT FEELS SO STRANGE, und jetzt kommt eine Gruppe von lauter Suzukis, im Volksmund «Sugi» genannt, in allen Tonarten zwischen h-Moll und F-Dur heranmusiziert. Die Maschinen preschen als zusammenhängender Klumpen in eine weidlich scharfe Kurve, wie aneinandergeklebt, zwanzig Zentimeter oder weniger Abstand von Mann zu Mann, mit einem Hundertdreissiger (tief geschätzt), und berühren sich nicht, die Artisten, es verscherbelt keinen einzigen, bravo, der Tod pulsiert in den Kurven und natürlich auch die Libido, und it feels so strange. Dennoch gab es heuer nicht einmal Knochenbrüche in Assen, nur weiche Verletzungen, Schürfungen/Prellungen/Hirnerschütterungen, und nur wenige kamen vorübergehend ins ZIEKENHUIS, wie die Spitäler in den Niederlanden heissen.

      Alles funktionierte sportlich, auch Angel Nieto hat sich gemässigt; der Bodensurri aus Spanien auf seiner Bultaco-50-Kubik hat seine Konkurrenten, wenn sie ihn überholen wollten, nicht mehr bei 180 km/h in die Schienbeine gekickt oder in die Lenden, mit seinen hart kickenden Beinchen, hat niemanden unsportlich auf die Piste geworfen, auch keinen Wutanfall bekommen und seinen leichten Töff nicht mehr nach dem Rennen an die Wand geschmettert wie auch schon: Er wurde nämlich Sieger der 50er-Klasse und stand befriedigt und ausgepumpt in der Sommerhitze auf dem Podest, während die spanische Nationalhymne und ein Lorbeerkranz, der ihm bis zu den Knien hinunterhing, den Sieg verdeutlichten und er die Huldigung der Massen entgegennahm wie Franco bei der Siegesparade 1939 in Madrid, mit leicht winkendem Fetthändchen. Aus der Vorratskammer unter dem Siegespodest hatten die Pfadfinder, welche den Lorbeer betreuten, nach einigem Suchen den zutreffenden Kranz hervorgenestelt, jenen mit der Inschrift: Grosser Preis der Niederlande, 50 ccm. Er sah aus wie ein Beerdigungskranz, auf der violetten Schleife hätte auch stehen können: Für treue Dienste unserem unvergessenen Mitarbeiter Nieto, die Firma Bultaco. Angel Nieto hatte sein Lederkombi bis zu den Hüften hinuntergerollt. Es war heiss. Sein Oberkörper schwitzte.

      Andere konnten die Siegerehrung nicht mehr im Vollbesitz ihrer körperlichen Kräfte entgegennehmen. H. Schmid, Beisitzer oder Beilieger von J. Martial in der Seitenwagenklasse, ein Gespann aus Zwitserland, wie dem Programm zu entnehmen ist, Start 16.15 Uhr am Samstag, vierzehn Runden auf Yamaha, hundertacht Kilometer in knapp dreiviertel Stunden, hat durchgehalten bis

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