Solange die Löwen nicht schreiben lernen. Christoph Keller

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Solange die Löwen nicht schreiben lernen - Christoph Keller

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      Schriftsteller sein heißt, mit anderen Stimmen zu ­reden. Zuerst aber heißt es zu lernen, mit der eigenen Stimme zu sprechen. Sonst geschieht, wovor das afrika­ni­sche Sprichwort warnt: Solange die Löwen nicht schreiben lernen, wird jede Geschich­te die Jäger verherrlichen.

      Christoph Keller nimmt seine drei Poetik­vorlesungen an der Universität St. Gal­len vom Herbst 2020 zum Anlass, sein eigenes umfangreiches, vielstimmiges Werk neu zu besichtigen. Dabei geht es um schelmisches Erzählen, um das Sprechen mit anderen Stimmen, darum, wer für einen spricht, wenn man es nicht selbst tut. Und darum, was das Lesen von Büchern für das Lesen der Welt bedeutet und wie das Lesen der Welt zum Schreiben von Büchern wird. Wie eine vierte Vorlesung fügt sich stimmig die Dankesrede für den Alemannischen Literaturpreis an.

      Foto Ayşe Yavaş

      Christoph Keller, geboren 1963, ist der Autor zahlreicher preisgekrönter Romane, unter anderem «Gulp», «Ich hätte das Land gern flach» und «Der beste Tänzer». Zuletzt erschie­nen von ihm «Jeder Krüppel ein Superheld. Splitter aus dem Leben in der Exklusion» (Limmat Verlag) sowie als Her­ausgeber (mit Jan Heller Levi) «The Essential June ­Jordan» (Copper Canyon Press). Keller, der über zwanzig Jahre in New York gelebt hat, schreibt auf Deutsch und Englisch. Für den Roman «Der Bo­­den unter den Füßen» wurde er 2020/2021 mit dem Alemannischen Literaturpreis ausgezeichnet.

      Christoph Keller

      Solange die Löwen nicht schreiben lernen

      Vom Lesenschreiben der Welt

      Limmat Verlag

      Zürich

      Für meinen Bruder Michael

      (1958–2020)

      Lass uns über etwas Fröhlicheres reden. Gibt’s Neues von der Cholera in Odessa?

      Sholem Aleichem, aus «Hodl»

      Solange die Löwen nicht schreiben lernen

      Poetikvorlesungen 2020 der Universität St. Gallen

      Herzlich willkommen zum Eröffnungsvortrag der öffentlichen Poetik- und Literaturvorlesungen der Universität St. Gallen. Ich bedanke mich, dass ich eingeladen worden bin, und ich bedanke mich, dass Sie gekommen sind. Das ist nicht selbstverständlich – die Zeiten sind pandemisch, es braucht etwas Mut. Trauen wir uns diesen zu, tragen wir uns Sorge, indem wir respektvoll Abstand halten, und an jene denken, denen es nicht möglich ist, hier zu sein, die uns aber über Livestream von zu Hause aus folgen. Es sind schwere Zeiten, für mich auch privat: Ich möchte diese Vorlesungen meinem kürzlich verstorbenen Bruder Michael widmen.

      Drei Abende gilt es, hier zu sein, sichtbar und unsichtbar. Ich stelle mir diese in etwa so vor – halt! «In etwa» deutet bereits einen meiner literarischen Tricks an, jenen der Abschweifung – nochmals halt! Warum so salopp «Trick» sagen und nicht etwa, wie es sich bei einer or­­dent­lichen Vorlesung gehört: «literarisches Verfahren»? Weil Schriftsteller, halten sie etwas auf sich, Trickster sein müssen, keine, welche die Buchhaltung fälschen, sondern ­solche, die das Leben mit Tricks aufmischen, verfälschen, also möglicherweise verbessern, und neu, also besser, anrichten, wie es diese in zahllosen Mythologien anzutreffende Figur tut – und die deshalb so geliebt wird, weil ihr spielerisch nicht ganz zu trauen ist – ah!, geliebt werden will der Herr Schriftsteller auch noch: Fällt ihm keine bessere Methode ein, Freundinnen und auch gleich Feinde zu gewinnen als – aber ich schweife ab.

      Doch darum, ums schelmische Erzählen, wird es heute Abend am Beispiel einiger meiner Romane und anderer erzählender Werke gehen – mit Ab­­schweifungen, Tricks und hoffentlich einigen gut abgehangenen Erkenntnissen und anderen Überraschungen.

      Noch eine Vorbemerkung. «Freundinnen und auch gleich Feinde»: Sie haben es gemerkt, mir liegt daran, gendergerecht zu sein. Man und frau und auch manfrau und fraufrau mögen mir verzeihen, gelingt mir nicht immer die beste Lösung. Das Gendersternchen, den Dop­pelstrich oder andere aus dem Text ragende Zeichen möch­­te ich vermeiden und es mit ausgleichender Gen­dergerechtigkeit versuchen, hier weiblich, dort männlich, abwechselnd. Was allerdings zu problematischen Fällen führen kann: «Vielleicht müssen Schriftsteller Narzisstinnen sein.» Ich werde mein Bestes tun, die guten und schlechten Rollen gendergerecht fair zu verteilen, gibt es doch von allen alle: ruchlose Helferinnen, selbstlose ­Mörder.

      Doch richtig ist richtig. Wer, wie zum Beispiel die «Stu­dentenschaft» der Universität St. Gallen, das un­belehr­bar anders sieht, liegt historisch falsch. Ihnen empfehle ich das Gedicht «Mythos» der amerikanischen Lyrikerin Muriel Rukeyser, der Gleichberechtigung in Leben und Werk Sauerstoff war.

      Noch lange wanderte Ödipus herum, alt und geblen­det. Ein Geruch kam ihm vertraut vor. Es war die Sphinx. ­Ödipus sagte: «Ich möchte eine Frage stellen. Weshalb habe ich meine Mutter nicht erkannt?» «Du hast die falsche Antwort gegeben», sagte die Sphinx. «Aber das war es doch, was alles möglich gemacht hat», sagte Ödipus. «Nein», sagte sie. «Als ich fragte: Was geht morgens auf vier ­Beinen, mittags auf zwei und abends auf drei, da hast du gesagt: Mann. Von Frau hast du nichts ge­­sagt.» «Wer Mann sagt», sagt Ödipus, «meint Frau stets mit. Das ist doch sonnenklar.» «Das glaubst ­vielleicht du», sagte sie.

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