Die Stimme des Atems. Ernst Halter
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→Aufsätze verbessern →Gerechtigkeit →Tinte
Rita G.
Kinder heiraten im Kindergarten. Da mir diese Institution erspart bleibt, heirate ich erst mit sieben Rita, meine Banknachbarin. Ein bleiches Püppchen, spricht wenig, leise, meldet sich selten, doch mit richtigen Antworten, ist lieb und blond wie ein Engel. Wir helfen uns mit Radiergummi, Tintenlappen und Farbstiften aus.
Von Ritas Leben hinter der unsichtbaren Grenze, welche den Schulgang vom Familienalltag sondert, weiss ich nichts; ich bin nie bei ihr zu Hause, obwohl meine Mutter zuweilen im Damenmodegeschäft ihrer Eltern an der Vorderen Hauptgasse einkauft. Anziehend ist für mich nur der reinliche Stoffgeruch. Der anstossende Laden dagegen – Haushaltwaren und Armaturen – fesselt meine Vorstellung durch die entweder unabsehbaren oder unvorstellbaren Anwendungsmöglichkeiten der Gegenstände. Am längsten bleibe ich beim Uhrmacher auf der andern Gassenseite stehen, in dessen Schaufenster mehrere Pendulen lebendig sind; einige gehen gravitätisch langsam wie Leitkühe, andre schlagen hastig aus, als ob sie sich verschlafen hätten und die Zeit nachholen müssten. An der Ecke seines Hauses hat er ein Glockenspiel mit Figurinen eingerichtet. Mit dem Schlag der Stunde beginnen die Figürchen in fremdartigen, längst aus der Mode gekommenen Kostümen zu tanzen: Schäferin und Pierrot, Offizier und Fräulein, Bär und Esel.
Tinte
Selbst wenn im Lehrplan das Schreiben mit Tinte fakultativ gewesen wäre: ihres Geruchs wegen hätte ich mich ihr nicht entziehen können. Er wölkte, kaum war der Deckel am Fässchen zurückgeschoben, aus dem blauschwarz verkrusteten Loch. Er war anders als alle mir bekannten Gerüche, weder angenehm noch Übelkeit erregend. Bitter und metallisch, Inbegriff eines gefährlichen chemischen Destillats, sinterte er übers Pultblatt herunter; er war das Abenteuer der 1. Klasse. Kam die Lehrerin mit der spitz geschnäbelten Nachfüllkanne vorbei, stach er in die Nase.
Aus Holz, längsgerillt, rot, gelb oder blau, war der Federhalter; er lief in eine Spitze aus und lag gleich einer Eidechse in der Hand. Die Soennecken-Einsteckfeder machte ihn zur Waffe; sie bohrte sich ins Pult oder den Parkettboden, wenn wir den Federhalter fallen liessen oder vor Eintritt des Lehrers damit nach einander warfen. Doch so messerscharf sie eindrang, so empfindlich war sie. Drückte man zu stark, grätschte die des Tintenflusses wegen gespaltene Spitze auseinander und war nicht mehr zurechtzubiegen, nun erst recht eine Schlangenzunge oder ein aufgesperrter Schnabel, mit dem man wütend herumkrakelte. Sie musste umgehend ersetzt werden. Mein erster Tintenlappen, genäht von der Mutter, war rund mit doppelter roter Lederabdeckung und einem höckrigen Glasknopf in Form einer Blüte, der die Stofflappen zusammenhielt.
Beim Schreiben musste man das Löschblatt unter die Schreibhand legen. Rutschte es nach oben, zog sich eine blaue Schmierfahne von den noch nassen Buchstaben schräg übers Blatt, nicht wegzuradieren. Tauchte man die Feder ein und vergass, sie am Rand des Tintenfasses abzustreichen, setzte sie einen runden oder eiförmigen Tolggen ab; die Seite blieb, selbst wenn man sogleich mit dem Löschblatt zu Hilfe eilte, verloren, weil sich das Papier von der durchnässten Stelle aus strahlig zu verziehen begann. Der Lehrer tröstete mild oder schalt cholerisch und riss mit stummer Endgültigkeit das Blatt aus dem Heft. Ein Reinheft verwand derartige Verletzungen nie. Im Bewusstsein des Schülers blieb es gezeichnet, ein Krüppel, mit jedem herausgerissenen Bogen entwürdigter und lockerer in den Fäden hängend.
Meine ersten Schreibversuche erinnere ich unter künstlichem Licht. Sie müssen in den Winter des ersten Schuljahrs gefallen sein, zwischen drei und vier Uhr, wenn die Kugellampen bereits angezündet waren. Vor mir steigt die Pultschräge hoch; zuoberst, wo das Pult flach wird, liegen in einer Längsvertiefung Lederetui, Lineal, Tintenlappen; ganz rechts, nicht sichtbar, steht der klebrig-schwarze Schlund des Tintenfasses drohend offen und dünstet herüber. Mich fesselt eine ängstliche Begierde. Auf dem Klappteil der Pultschräge halte ich das Heft fest. Ich tauche die Feder ein, streiche sie ab und male mich Bein für Bein den Buchstaben eines Wortes entlang. Der Strich bleicht aus, wieder tunke ich ein. Als ich weiterschreiben will, bemerke ich den rund bauchenden Tintentropfen an der Spitze. Voller Schrecken, doch vorsichtig, hebe ich den Federhalter weg, um nachträglich abzustreichen; der Tropfen fällt unterwegs aufs Pult. Mit einer Ecke des Löschblatts sauge ich ihn auf. Das soll mir eine Lehre sein. So gut mein Herzklopfen es erlaubt, male ich voran. Da verfängt sich die Federspitze in einer Papierfaser, es knistert, und winzige Tintenspritzer bekleckern die Seite; in der Hast, sie aufzutrocknen, vergesse ich die mit Tinte vollgesogene Löschblattecke, und quer durch drei Zeilen zieht sich ein hellblauer Schmierstrich. Über mich schwappt die verzweifelte Gewissheit des Tintenfritzen, dass er es nie, nie können werde. Zwar wird Fräulein K. mir mein Ungeschick wohl nachsehen, doch die Makellosigkeit der Heftseite ist dahin. Eine Weile quält und lähmt mich der Widerstreit der Gefühle – Verehrung und Faszination der Tinte gegen Gewissheit ewigen Versagens vor ihren Tücken –, und wie in einem ausweglosen Traum muss ich ihm standhalten, ohne in Tränen auszubrechen. In Angst, nun alles falsch zu machen, tunke ich ein, streiche ab; doch die Papierfaser steckt bereits im Federspalt und überzieht die Säcke von b, g, k mit einem bläulichen Tintenfilm. Ich greife nach dem Tintenlappen und reisse im Reinigen die Feder aus der Steckritze, und plötzlich verlassen mich die Kräfte, ich kann nicht mehr.
Das rötliche Licht der Kugellampen überflutet die blauen Linien und gilbt das Heftpapier; es ist still, zuweilen kratzt eine Feder oder seufzt ein Kind; die Lehrerin am Pult liest. Oder schläft sie mit offenen Augen? Vor den drei hohen Fenstern wird die violette Schneedämmerung dichter.
→Gestank →Hefte austeilen →Der Geruch
Kalligraphie
Herr Kuhn, unser Drittklasslehrer, ist Präsident der Eidgenössischen Schriftkommission; in der letzten Stunde des ersten Schultags sagt er: Passt mal auf, wie schön Schreiben sein kann.
Was wir zu sehen bekommen, übersteigt jede Vorstellung; ich bin beglückt, überwältigt, eingeschüchtert, sprachlos vor Bewunderung und Ehrfurcht. Herr Kuhn zaubert die Wandtafel voll mit Schriften: kaiserlich daherschreitende Antiqua, mager tanzende Grotesk, deutsche und französische Schreibschrift, gotische Schwabacher, gotische Kurrend, Sütterlinschrift, Fraktur, gotische Zierinitialen. Ich sehe das grosse A, das F, das O, das ebenso bauchige wie verschnörkelte G unter seiner Hand hervorblühen und weiss: Das ist der Buchstabenhimmel. Wie nur bewahrt Herr Kuhn all die Buchstabenblumen voller Blätter, Schleifen und Häkchen in seinem Gedächtnis? Und ich verehre und liebe ihn für das Wunder an der schwarzen Schiefertafel, daran er uns teilhaben lässt. Nicht ein einziges Mal, ob er sie mit der Spitze oder stumpf oder gar der Länge nach ansetzt, fiept und knirscht die Kreide in seinen Fingern oder kreischt, als müsse sie den Geist aufgeben; sie hat sich in seiner Hand in den weichen Pinsel eines Malers verwandelt.