Aufwind. Angela Pointner

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Aufwind - Angela Pointner

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Situation den Drang, es allen recht zu machen: Besucher zu empfangen, die so überfordert waren, dass ich sie stützen musste, anstatt umgekehrt. An das Pflegepersonal möglichst keine »Extra-Wünsche« zu stellen, um ja nicht als aufdringlich empfunden zu werden. Sich kluge Sprüche und Weisheiten von Menschen anzuhören, die in Wahrheit keine Ahnung hatten. In Gesellschaft von Freundinnen nicht (mehr) zu weinen oder über meine Trauer zu sprechen, um niemanden zu belasten oder die gute Stimmung zu zerstören.

      Diese Liste ließe sich beliebig verlängern. Bei Alex verlagerte sich das Gefühl der Wertlosigkeit hingegen auf den beruflichen Bereich. Die Erschöpfung, die aus der monatelangen Überforderung durch unsere Situation resultierte, machte ihm Angst, dass er uns nicht mehr versorgen könnte. Obwohl wir finanziell abgesichert waren und uns beiden dank bisheriger Ausbildungen und Erfahrungen Möglichkeiten offenstanden, hatte er das Gefühl, nichts zu leisten. Während unsere Tochter noch im Wachkoma lag, war für diese Gefühle kaum Zeit, jeder Tag war geplant und eng durchgetaktet. Nach ihrem Tod und während der ersten Zeit der allumfassenden Trauer meldeten sich diese dafür aber mit größter Vehemenz.

      Der Umgang mit diesen (und anderen) vermeintlich negativen Gefühlen veränderte sich: Versuchten wir sie anfangs zu verdrängen, so schafften wir es schließlich, uns ihnen mit therapeutischer Hilfe zu stellen. Nicht alle Emotionen hingen mit der akuten dramatischen Situation zusammen, manche hatten ihren Ursprung in frühkindlichen Prägungen. Diese Erkenntnis brachte nicht unbedingt eine Veränderung der Empfindungen, aber sie beeinflusste unseren Umgang damit zum Positiven.

      Das Leben ist kein Wunschkonzert, heißt es oft so treffend. Immer wieder sind wir genötigt, Erwartungen und Vorstellungen, die wir einmal aus bestimmten Gründen getroffen haben, über Bord zu werfen. Freiwillig geschieht dies in den seltensten Fällen, denn Veränderung ist mühsam und braucht sehr viel Durchhaltevermögen. In einer schweren Krise kann ich mir allerdings nicht aussuchen, ob ich mich an sie anpassen will oder nicht. Wenn meine Firma aufgrund der Covid-19-Beschränkungen in Konkurs gegangen ist, muss ich mir eine neue Arbeit suchen – ob ich will oder nicht. Als unsere Tochter Nina nach ihrem Suizidversuch in der Intensivstation lag, mussten wir uns auf diese Situation einstellen – so schwer es auch war.

      Als Nina im Dezember 2015 verstarb, kippte ich in ein tiefes Loch. Dreizehn Monate lang hatten wir alle Energien mobilisiert, um ihr und unseren anderen Kindern bestmöglich beizustehen, und nun war sie tot. Die ständige Anspannung fiel ab und hinterließ eine unendliche Leere. Alles schien umsonst gewesen. Ich stellte nicht nur die letzten Monate, sondern mein ganzes Muttersein, meine ganze Persönlichkeit in Frage. Und damit bekam alles, was geschehen war, einen Sinn: Es musste sich etwas verändern, und zwar tiefgreifend und langfristig. Unsere Beziehung stand auf dem Prüfstand: als Liebespaar, als Elternpaar, als Sohn und Tochter unserer Eltern.

      Veränderungsbewusstsein bedeutet für uns, auch »erfolgreiche« Bewältigungsstrategien zu hinterfragen. Wer von einem Schicksalsschlag getroffen wird, hat keine Zeit, um zu reflektieren, wie und ob er »gesund« reagiert. Das Notfallprogramm, das dabei abläuft, ist oft ein uraltes, das häufig schon in der Kindheit angelegt wurde. Doch in der Krise nach der Akutphase ist es wichtig, sich die Zeit zu nehmen, um zu reflektieren. Was kann ich tun, um meine Anpassungsfähigkeit zu verbessern? Passen meine Bewältigungsstrategien auch in der aktuellen Situation noch oder stecke ich fest? Habe ich mich kognitiv zwar auf die Krise gut eingestellt, körperlich den Bogen aber weit überspannt?

      Leider wird die mentale Gesundheit, die von der körperlichen nicht zu trennen ist, in Österreich immer noch sträflich vernachlässigt. Wenn man es sich nicht leisten kann, privat eine Therapie zu finanzieren, wartet man oft wochen- oder sogar monatelang auf ein kassengestütztes Angebot. Neben dem persönlichen Bewusstsein braucht es entsprechend Geld und Zeit, um eine Krise dermaßen nachhaltig zu bewältigen, dass man daran wachsen kann.

      Mit der Aufhebung der Corona-Maßnahmen wird für viele weder die wirtschaftliche noch die psychische Krise vorbei sein. Aber auch wer gesundheitlich und finanziell verschont geblieben ist und nun darauf hofft, möglichst schnell wieder zur »alten« Normalität zurückkehren zu können, wird enttäuscht werden. Die Covid-Krise hat gesellschaftliche Wunden gerissen, die erst langsam und nicht ohne gemeinsame Anstrengung verheilen können. Die langfristige Bewältigung einer Krise kostet genauso viel Kraft wie die dramatische Zeit davor.

      Hätten wir nach Ninas Tod »einfach« ein paar Monate trauern und dann mit der ganzen Tragödie abschließen sollen, um weiterzumachen wie zuvor? So wie uns nicht wenige unserer FreundInnen oder nahen Verwandten geraten hatten?

      Das hätte bedeutet, dass vieles, was wir gerade als Persönlichkeiten in der akuten Phase gelernt und entwickelt hatten, in gewisser Weise rückgängig gemacht werden hätte müssen. Um es an einem Beispiel zu veranschaulichen: Hatte ich versucht, es in den ersten Monaten allen recht zu machen, so musste ich mit der Zeit lernen, mich zu wehren, z. B. dem Pflegepersonal deutlich und nachdrücklich zu sagen, wenn ich das Gefühl hatte, dass bei Nina etwas nicht stimmte. Ich musste des Öfteren für das Wohl meiner Tochter kämpfen. Umgekehrt machte Alex bald die Erfahrung, dass er mit seinem »Cheftrainer-Verhalten«, nämlich Dinge selbst in die Hand zu nehmen bzw. energisch einzufordern, nicht mehr weiterkam. Er musste in mancher Hinsicht diplomatischer auftreten.

      Ich fühlte mich nach der ersten Phase der allumfassenden Trauer durch diese Erfahrung sehr gestärkt. Wenn ich so ein dramatisches Erlebnis wie Ninas Suizidversuch und seine Folgen überstanden hatte, dann müsste es mir doch gelingen, auch in meinem restlichen Leben bestimmte Dinge anders zu regeln. Ich wollte meinen Ärger nicht mehr hinunterschlucken, ich wollte meine negativen Gefühle nicht mehr ständig verdrängen, ich wollte sagen können, wenn mir etwas nicht passte. Gleichzeitig waren meine Energiereserven so leer, dass mir klar wurde, dass ich einen neuen Umgang mit meinen negativen Gefühlen lernen musste. Denn sie weiterhin zu verdrängen hätte nicht nur viel mehr Kraft gekostet, sondern auch bedeutet, dass ich mich als Persönlichkeit selbst verleugnet hätte.

      Doch der Weg dorthin sollte länger dauern, als vermutet, davor gab es noch einige Schichten an erlerntem Verhalten, übernommenen Glaubenssätzen und verdrängten Kindheitserinnerungen abzutragen. Und das nicht nur als Einzelperson, sondern in einem Familiensystem: mit Kindern, die ebenfalls durch das Geschehene traumatisiert waren, und einem Partner, der ganz andere Bewältigungsstrategien und -geschwindigkeiten fuhr als ich selbst.

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