Die Mythen der Bibel . Walter Brendel
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Die Suche nach Antworten fördert überraschendes zutage: Das Mirakel wird nicht nur in einer Epoche geboren, die wie keine vorhergegangene nach sinnlichen Verkörperungen der Christusgewalt verlangt. Noch dazu lassen sich viele Muster, denen das Wunder bis heute zu folgen scheint, auf hochmittelalterliche Weichenstellungen zurückführen.
Als Franziskus die Zeichen empfängt, befindet sich die abendländische Frömmigkeit in einer revolutionären Umbruchphase. Über tausend Jahre lang triumphierte der siegreiche Christus - seit dem Hohen Mittelalter aber richtet sich die Anbetung auf den leidenden Menschensohn, der durch die Kreuzzüge und Pilgerfahrten ins Heilige Land in nie gekannter Weise greifbar wird. Die Besessenheit von den leiblichen Dimensionen der Erlösung führt schließlich zu einer veränderten Umsetzung des Nachfolgegebots: „Das Kreuz auf sich nehmen“ bedeutet zu Lebzeiten von Franziskus nicht mehr nur, in Armut oder im Dienst am Nächsten leben. Sondern: leiden, ächzen - und fühlen wie der Fleischgewordene.
Vor diesem Hintergrund erschafft der Zisterzienser Bernhard von Clairvaux neue Passionsmystik, die den Körper zum Ort der Gotteserfahrung macht. ln einem Zeitalter, das die zärtliche Liebe als Ideal verherrlicht, soll sich der Gläubige als „Braut“ zur „Jesusminne“ emporheben. Das leibliche Sich-Einfühlen in die Qualen Christi wird in erotischen Bildern beschworen - just in dem Moment, als die Kirche die Ehelosigkeit für Priester und Ordensleute zementiert.
Beispielhaft hierfür steht das Hohelied des Alten Testaments: ein betörend-sinnliches Zwiegespräch zwischen zwei Liebenden, das den Moment der höchsten Lust mit der Berührung der Lippen gleichsetzt. In Bernhards Deutung steht dieser Kuss für das Einswerden mit Gott, dem das Hochmittelalter mit einer neuen Technik - der Bildmeditation - entgegenarbeitet.
Schon im 12. Jahrhundert werden Mönche ermahnt, ihre Zellen mit dem „Bildwerk des am Kreuze hangenden Heilands“ auszustatten und sich mit seiner Hilfe in die Passion zu versenken. Im Spätmittelalter greift die Bildmeditation schließlich derart um sich, dass sich der Historiker Peter Dinzelbacher dafür ausspricht, „sehr viele Visionen“ als Beschreibungen von Kunstwerken zu lesen.
Bezeichnenderweise spricht die Verherrlichung des schwachen Christus gerade Ordensfrauen an. Wie Kulturwissenschaftler betonen, gilt demütiges Erdulden seit frühester Zeit als weibliches Verhalten. Dies erklärt, warum der „Schmerzensmann“ - just in dem Moment, da er das vormals nackte Kreuz erobert - mit kindlich-mädchenhaften Zügen ausgestattet wird. Aber auch die Brautmystik richtet sich in besonderer Weise an die Töchter Evas - und ermahnt sie, ihre Triebhaftigkeit in marienhaft-jungfräuliche Gottesliebe umzuwandeln.
Wunder? Bei dem italienischen Priester Padre Pio (1887 -1968) zeigten sich ab 1918 Wundmale an Händen, Brust und Füßen (nächste Seite). Auch Krankenheilungen und Weissagungen werden ihm zugeschrieben, weswegen er 2002 heiliggesprochen wurde. An der Padre-Pio-Statue in Messina beobachteten Gläubige im selben Jahr einen Ausfluss blutiger Tränen. Eine Frau aus der Stadt gestand später, dass es sich um einen Scherz ihres Sohnes handelte, der sein Blut auf die Figur gesprenkelt hatte
Sadistisch: Mit einem langen Nagel fixierten die römischen Soldaten die Füße Christi am Kreuz. Der kleine Querbalken sollte verhindern, dass der Verurteilte durch sein Gewicht nach unten sackte und ohnmächtig wurde - was die Qualen verkürzt hätte
Hieraus entsteht eine eigenwillige, weibliche Leidensfrömmigkeit, die Nonnen mitunter sogar veranlasst, ihr Bettlager mit der Statue des Gekreuzigten zu teilen. Der Wille, dem Mitleid nachzuhelfen, treibt indes beide Geschlechter zu Extremen. Wenn sich die Klosterfrau Maria von Oignies (um 1177-1213) in höchster Ekstase ein Fleischstück aus der Hand schneidet, gleicht sie unzähligen Glaubensbrüdern, die sich im Leidenswahn Christuswunden zufügen oder sich - im Extremfall – freiwillig ans Kreuz schlagen lassen.
Stigmatisiert: Therese Neumann erblindete 1919, war gelähmt - und genas wie durch ein Wunder. Seit 1926 soll sie weder gegessen noch getrunken haben. Sie wurde weltberühmt und starb 1962
Selbst beigebrachte Jesuswunden, die in den Quellen gleichfalls als Stigmata bezeichnet werden, haben freilich einen Makel: Sie kommen nicht von Gott - und wer
sie sich aneignet, muss sich wegen Anmaßung verantworten.
Ganz anders die Stigmata des Franziskus von Assisi, die sich geschmeidig in das Programm des 4. Laterankonzils (1215) einfügen. Nicht nur, dass die Kirchenversammlung den eucharistischen Verzehr von Christi Leib und Blut zum zentralen Glaubenssakrament erhoben hat. Seit diesem Konzil gilt es als Gewissheit, dass sich der Erlöser buchstäblich in Brot und Wein verkörpert - oder aber im Körper frommer Gläubiger: Es ist die Idee der freiwilligen Reinkarnation, die erklärt, warum die Male so viel mit Macht zu tun haben. Wer als Einschreibfläche auserkoren wird, erreicht im Idealfall das Ansehen eines „zweiten Christus“. Franziskus erhält den Gnadenerweis in einer Zeit, als sein Führungsanspruch innerhalb der Gemeinschaft wankt. Das Wunder stärkt daher den Franziskanerorden als Ganzes und verleiht ihm das Siegel der Einzigartigkeit.
Beobachtungen zeigen, dass sich das Gesetz von Angebot und Nachfrage überzeitlich geltend macht: Stigmata ereignen sich bevorzugt da, wo das Verlangen nach drastischen Christusbeweisen situationsbedingt ansteigt und wo sie auf Jünger stoßen.
Jesusmale erscheinen, wo Gruppen, die sich auf Christus berufen, nach einem sinnlichen Beweis für ihre Rechtmäßigkeit suchen - mitunter auch außerhalb des Katholizismus.
Vor allem aber vollzieht sich die Neuauflage der Passion immer wieder dort, wo sich Christusanhänger in der Opferrolle wähnen, wo sie Angriffe erleiden und sich ihres Glaubens rückversichern müssen.
So auch im frühen 19. Jahrhundert, als die römische Kirche - vom napoleonischen Joch befreit - auf neue Feinde trifft. Der Katholizismus wähnt sich im Kampf gegen staatliche Übergriffe und protestantische „Ketzer“-Theologen, die die Evangelien als
Kindermärchen verleumden; hieraus entsteht eine Frömmigkeitsbewegung, die um 1830 eine regelrechte „Sucht nach Wundern“ produziert. Wie der Historiker Bernhard
Gißibl zeigt, verlangt die Zeit nach Zeichen, die das Wirken Christi wieder greifbar machen: nach leidenden „Jungfrauen“, die das Martyrium der „reinen“ Kirche verkörpern.
Prompt kommt es in den ländlichen Gebieten Frankreichs, Südtirols und Oberbayerns zu einer neuen Welle von Stigmatisationen, die vielerorts gezielt von Seelsorgern gesteuert werden. Dies gilt auch für das oberbayerische Waakirchen, wo Pfarrer Matthias Weinzierl mit heiligem Eifer an der „plastischen Durchbildung“ der Stigmata arbeitet: Rosenkranzgemeinschaften und Ölbergsandachten, die das Passions-geschehen dramatisch lebendig machen. Ältere und neue Leidensvorbilder, die systematisch eingepaukt werden, allen voran der spektakuläre Fall der „Kindfrau“
Maria von Mörl, die ab 1834 in Südtirol blutet. Und: geheimnisvolle priesterliche Hausbesuche, die bereits damals mit Hypnose in Verbindung gebracht werden. All dies beschert der Gemeinde