Curriculum Prothetik. Jörg R. Strub
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Eine entscheidende Erfindung war Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Entdeckung und Weiterentwicklung eines anorganischen Grundstoffs, der sich als Basismaterial für Zahnersatz eignete. 1774 ließ sich der Pariser Apotheker F. T. Duchateau (1751–1829) für sich selbst ein Gebiss aus Porzellan brennen. Nach diesem Rezept brachte der Pariser Zahnarzt N. D. de Chémant (1753–1824) 1788 die erste Mineralpaste für Zahnersatz auf den Markt. Aufgrund der bei der Herstellung auftretenden Schrumpfungen, die die Passgenauigkeit stark beeinträchtigten, führten die in einem Stück gebrannten Porzellangebisse zu massiven Druckstellen, waren bruchanfällig und klapperten. Trotz dieser Mängel scheint die Popularität der Gebisse, für die mit den Schlagworten „geruchlos und unverweslich“ geworben wurde, groß gewesen zu sein, wie plakative Karikaturen von Porzellangebissträgern vermuten lassen. Die in einem Stück gebrannten Porzellanprothesen ließen sich durch die Verwendung von Metalloxiden in verschiedenen Farben tönen.
Dem Italiener G. Fonzi (1768–1840) gelang 1808 die Entwicklung einer Methode zur Herstellung von Einzelzähnen mit eingebrannten Platinstiften (sog. Crampons). Damit war der entscheidende Schritt zum neuzeitlichen Zahnersatz getan, denn nunmehr konnte man Basis und Zähne getrennt herstellen. Die industrielle Produktion von Mineralzähnen begann 1825 in Amerika durch S. W. Stockton (1800–1872), ab 1844 auch durch die noch heute bestehende Firma S. S. White Corporation. Obwohl nun verschiedene Varianten von Industriezähnen zur Verfügung standen, wie die Röhrenzähne des Engländers C. Ash (1815–1892), die einen zentralen Kanal zur Verankerung eines Stifts hatten, oder die sogenannten Blockzähne („continuous gums“) von J. Allen (1810–1892), drei zusammengefasste Frontzähne mit angrenzendem Zahnfleisch, wurden noch bis weit über die Jahrhundertmitte hinaus weiterhin menschliche Zähne und Zahnbein von Tieren für Zahnersatz verwendet.
Ohne die Entwicklung der Bohrmaschine zum Aufbohren von Kavitäten und zum Beschleifen von Zähnen wären die technischen Möglichkeiten für Zahnersatz und zum Füllen von Zähnen jedoch wenig erfolgreich geblieben (Schuh 1937). Zwar ist die Verwendung von Fiedel- oder Drillbohrern schon aus der jüngeren Steinzeit bekannt, wo bereits Zähne mit Feuersteinbohrern trepaniert wurden (vgl. Alt 1989, Bennike 1985, White et al. 1997), im Bereich der Zahnmedizin dauerte es jedoch nach bescheidenen Vorläufern bis 1871, bevor mit der Tretbohrmaschine von J. B. Morrison (1829–1917) das erste voll funktionstüchtige Gerät zur Verfügung stand. Ebenso wichtig wie der Gebrauch der Bohrmaschine waren neue Abformmaterialien für den Fortschritt in der Prothetik. Auf diesem Gebiet zählen die Entwicklung eines Verfahrens mit hydrokolloidalen Agar-Stoffen durch A. Poller (1927), die Benutzung von elastischen Gelatinemassen seit 1938 und ab 1940 die Verwendung des Naturprodukts Alginat als Abformmaterial zu den wesentlichen Neuerungen.
War die Zahnersatzkunst über Jahrtausende allein durch den Wunsch von Patienten nach Ästhetik bestimmt, so wurde im 19. und 20. Jahrhundert der Wiederherstellung der Funktion eine immer größere Bedeutung zugemessen, was durch die Tendenz zu einer funktionellen Betrachtung des stomatognathen Systems zum Ausdruck kommt. Davon beeinflusst, und bedingt durch technische Innovationen, kam es und kommt es in den einzelnen prothetischen Teilgebieten wie Kronen-Brücken-Ersatz, kombiniert festsitzend-herausnehmbarer Zahnersatz und Totalprothetik zu entscheidenden Fortentwicklungen. Mit der Adhäsivprothetik und dem implantatgestützten Zahnersatz wurden wichtige Ergänzungen zum bestehenden Behandlungsspektrum geschaffen. In jüngster Zeit hat sich mit der CAD/CAM-Technologie (computer-aided design and computer-aided manufactoring), die computergesteuerte maschinelle Herstellung von Zahnersatz, die prothetische Versorgung von Patienten mit Zahnkronen, Inlays, Onlays und Veneers weiter vereinfacht (Schweiger und Kieschnick 2017). Die Darstellung dieser Entwicklungen ist den jeweiligen Spezialkapiteln dieses Buches vorbehalten. Die essentiellen Fortschritte der Zahnprothetik im 20. und 21. Jahrhundert bedeuten jedoch nicht, dass die ästhetischen Aspekte der Zahnersatzkunde in den Hintergrund getreten sind. Das Gegenteil ist der Fall. Es steht außer Zweifel, dass die Ästhetik heute alle Teilbereiche der Zahnmedizin einschließt und die therapeutischen Leistungen der Zahnmedizin entscheidend beeinflusst.
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