BePolar. Martha Kindermann
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»Das tut mir sehr leid«, antwortet die Schwester »wir dürfen keinen Besuch zu ihm lassen. Wenn ihr wollt, kann ich eben die Mutter zu euch schicken, ja?« Sie spricht mit uns in einem Ton, der lediglich für Dreijährige angemessen wäre, deren Gummibärchenvorrat zuneige gegangen ist. Ich schäume gleich über.
»Ist gut, vielen Dank.« Hat sich Fenja gerade bei ihr bedankt?
»Was soll das?«, frage ich sie. »Warum protestieren wir nicht einfach dagegen?« Sie tätschelt meine Hand und schaut mich an.
»Du weißt doch am besten, wie der Hase läuft. Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als bei Tarik zu sein, doch wenn unser Besuch ihn zu stark aufregt und seiner Genesung im Weg steht, dann könnte ich mir das niemals verzeihen.« Sie hat recht; in allem, was sie da sagt, hat sie recht und ich muss meine Gefühle unter Kontrolle kriegen, damit ich die Wut nicht an Tariks Mum auslasse.
Es sind Schritte zu hören und die automatische Tür öffnet sich mit einem summenden Geräusch. Frau Wöller sieht verheult und müde aus. Kein Wunder, nach einer schlaflosen Nacht.
»Schön, euch zu sehen«, begrüßt sie uns auf ihre herzliche Art.
»Wollen wir uns kurz setzen?« Sie deutet auf eine kleine Sitzgruppe im Gang und wir nehmen Platz. »Habt ihr etwa die Schule geschwänzt?«, fragt sie mit einem Schmunzeln auf den Lippen. »Na ja, Tarik hätte wahrscheinlich das Gleiche getan. Schön, dass ihr hier seid. Das bedeutet uns viel.« Sie macht eine kleine Pause und Fenja ergreift das Wort.
»Was sagen die Ärzte? Können wir zu ihm?« Frau Wöller senkt traurig den Kopf.
»Er hängt an einigen Maschinen und wird künstlich ernährt. Der Chefarzt meinte aber, es wäre nur eine Frage der Zeit, bis er wieder aufwacht. Tarik hat wohl sehr viel Glück gehabt.« Sie schluckt und versucht die Tränen zurückzuhalten. »Eine Schwellung im Gehirn verursacht die Bewusstlosigkeit. Da er jedoch bisher keinerlei Blutungen aufweist, könnte er sich vollständig erholen, ohne Folgeschäden davon zu tragen.« Fenja reicht ihr geistesgegenwärtig ein Taschentuch. »Es kann Stunden, Tage, aber auch Monate dauern, bis die Schwellung zurückgeht und bis dahin braucht sein Körper Ruhe.«
»Bekommt er mit, was um ihn herum geschieht?«, frage ich.
»Wir wissen es nicht, aber ich rede sehr viel mit ihm oder lese etwas vor. Vorlesen hat er immer so gemocht und vielleicht bringt ihn das schneller wieder zurück.« Sie sieht hoffnungsvoll auf das Bild an der Wand. Ein dunkelblauer Hintergrund, in dessen Mitte ein großer, runder, weiß-gelber Kreis zu sehen ist. Licht in der Dunkelheit, ein schöner Ausblick.
»Können wir irgendetwas für Tarik tun oder Ihnen etwas helfen?«, erkundigt sich Fenja. »Wir könnten Essen vorbei bringen oder die Blumen im Haus gießen.«
»Vielleicht zündet ihr zu Hause eine Kerze für ihn an und besucht uns hin und wieder. Es tut gut, seine Freunde zu sehen. Und sicher dauert es nicht mehr lange, bis wir euch zu ihm lassen können.« Sie steckt das Taschentuch weg und nimmt unsere Hände in die ihren. »Danke, Mädels. Ich geh jetzt wieder rein und grüße ihn von euch.« Frau Wöller steht auf und lächelt uns zum Abschied noch einmal zu. Dann öffnet sich die Stationstür und sie ist verschwunden. Wir sitzen eine Weile so da und betrachten das Gemälde an der Wand.
»Meinst du, man blickt dem Licht entgegen oder wird es von der Dunkelheit verschluckt?« Fenja sieht mich desinteressiert an.
»Dem Licht? Ich weiß nicht. Für mich sieht es aus wie eine abstrakte Darstellung unserer Flagge. Auch egal, komm jetzt!« Sie schiebt ihren Stuhl zurück, erhebt sich langsam und schlürft über den Boden in Richtung Fahrstuhl. Mit ihren Fingerspitzen fährt sie an der Wand entlang und verströmt eine so tiefe Traurigkeit, dass es mir fast das Herz bricht. Die beiden gehören zusammen wie Pech und Schwefel, wie Pfeffer und Salz, Feuer und Wasser – ich könnte es ewig weiterführen. Es hat eine Weile gedauert, bis sie sich ihre Liebe eingestanden haben, ehrlich gesagt eine Ewigkeit. Doch seit diesem Tag sind sie miteinander verschmolzen und unzertrennlich. Es ist schön, wahre Liebe Tag für Tag erleben zu dürfen. Umso schrecklicher, sie nun so leiden zu sehen.
Der Fahrstuhl öffnet sich und bringt uns heil in die Eingangshalle zurück. Mittlerweile hat es tatsächlich angefangen zu regnen. Wir halten uns die Rucksäcke über den Kopf, um halbwegs trocken den Bus zu erreichen und rennen los.
Fünf Minuten.
Vier Minuten.
Drei Minuten.
Ich weiß absolut nicht, was sich sagen soll. Meine Freundin starrt mit irren Augen in Richtung Krankenhaus und lässt mich außen vor.
»Fenja, ist alles klar?« Ohne ein Wort tritt sie vor das Wartehäuschen in den Regen. Ich geselle mich zu ihr und lasse meine Traurigkeit vorübergehend abwaschen.
Als der Bus vorfährt, sind wir bis auf die Unterwäsche nass. Meine Zähne klappern trotz der siebenundzwanzig Grad, doch der Regen hat uns die Herzen erleichtert und das ist alles, was zählt.
Vor der Schule steigen wir aus und rennen so schnell wir können nach Hause, um nicht entdeckt zu werden. Ich hoffe, meine Ma schreibt mir eine Entschuldigung, denn die Lust auf Schule ist uns nach diesem Ausflug gründlich vergangen.
Da Fenja die Einladung zu einem Aufwärmkakao bei mir dankend abgelehnt hat, trete ich allein den Heimweg an. Nass, traurig und völlig am Ende.
Im Haus angekommen, sehe ich Rheas Ökolatschen auf dem Abstreicher stehen und mich überkommt ein freudiges Gefühl. Vielleicht habe ich Glück und sie nimmt sich ein paar Minuten Zeit für mich.
»Rhea?«, rufe ich nach oben. Wenige Sekunden später öffnet sich im Obergeschoss eine Tür und Schritte im vertrauten Laufrhythmus kündigen ihre Ankunft an.
»Sag mal, hast du keinen Schirm? Zieh mal schnell dein Zeug aus. Mama wird wahnsinnig, wenn du die Bastmatte durchnässt.« Sie steht mit verschränkten Armen vor mir und weiß, dass sie recht hat. »Geht es dir gut, Süße? Irgendwie siehst du kränklich aus.« Vorsichtig befühlt sie meine Stirn, ohne sich nass zu machen.
»Ich bin gesund und ja, den Schirm hab ich vergessen. Ich komme gerade aus dem Krankenhaus. Tarik hatte einen schweren Autounfall und liegt auf der ITS im Koma.« Die Worte schießen wie auf Kommando aus meinem Mund, als hätte ich sie schon tausend Mal wiederholt.
Rhea kommt einen Schritt näher und legt die Arme um mich. So bleibe ich zwar nass, aber es tut gut, gehalten zu werden.
»Sie ließen uns nicht zu ihm, es ist echt unfair.« Sie zieht mich fester an sich heran und drückt ihre Wange an meine triefenden Haare. Nun sind wir beide pitschnass und Mamas Bastmatte muss dafür büßen.
»Komm, ich mach Kakao und dann erzählst du mir alles. Willst du Vanilleeis rein?« Oh ja, das ist ein sehr gutes Trostpflaster. Ich nicke ihr zu und flitze in mein Zimmer, um mir trockene Sachen anzuziehen.
Rhea hat eine Duftkerze angezündet, sitzt im Schneidersitz auf dem Sofa und popelt Dreck aus ihren Fingernägeln. Das Gewitter hat den Himmel verdunkelt und so ist es im Wohnzimmer richtig gemütlich. Mir ist eher nach Tee zu Mute und ich würde mich liebend gern in eine Decke kuscheln, aber das Thermometer zeigt schwülwarme dreiundzwanzig Grad,