Taras Bulba. Nikolai Gogol
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Sein jüngerer Bruder Andri besaß ein regeres und sozusagen entwickelteres Gefühlsleben. Er hatte mehr Freude am Lernen, und es kostete ihn nicht die Anstrengung, die ein schwerfälliger und starker Charakter darauf verwenden muß. Er war erfinderischer als sein Bruder, warf sich öfter zum Anführer bei allerhand gewagten Streichen auf und verstand es manchmal, sich kraft seines anschlägigen Kopfes um die Strafe zu drücken, während sein Bruder Ostap, ohne groß etwas daraus zu machen, den Kittel auszog und sich auf den Boden legte, sehr fern von dem Gedanken, um Gnade zu bitten. Auch Andri brannte vor Tatendurst, zugleich aber stand sein Herz andern Gefühlen offen. Ein starker Liebeshunger begann ihn zu plagen, als er die achtzehn hinter sich hatte – das Weib ging immer häufiger durch seine heißen Träume. Während der philosophischen Dispute tauchte es plötzlich vor ihm auf, frisch, schwarzäugig, verliebt. Ohne Ende gaukelten feste Brüste vor seinen Augen und schlanke, schöne, splitternackte Arme; leichte Gewänder, die er um üppige Mädchenleiber wallen sah, hauchten unsäglich schwülen Duft in seine Träume. Keiner der Kameraden durfte von diesen Wallungen seines leidenschaftlichen jungen Herzens etwas ahnen – galt es doch zu jener Zeit als Schande für einen Kosaken, an Weiber und Liebe auch nur zu denken, bevor er im Krieg gewesen war. Zumal in den letzten Jahren war Andri immer seltner als Rädelsführer bei tollen Streichen auf den Plan getreten und hatte sich dafür um so häufiger allein in den entlegnen Gassen von Kiew herumgetrieben, zwischen den schattigen Kirschgärten, aus denen niedere Häuschen verlockend auf die Straße blinzelten. Manchmal war er auch in das vornehme Viertel geraten, die heutige Altstadt von Kiew, wo die kleinrussischen und polnischen Edelleute wohnten und die Häuser einen gewissen Glanz zeigten. Eines Tages, als er recht in Gedanken war, hätte ihn beinah die Kalesche eines polnischen Junkers überfahren; der grimmig beschnauzbartete Kutscher wischte ihm vom Bock herunter tüchtig eins mit der Peitsche aus. Der Seminarist kam in Wut: leichtsinnigen Mutes griff er mit seiner starken Faust ins Hinterrad und brachte die Kalesche zum Stehen. Der Kutscher aber, der wohl die Vergeltung fürchtete, schlug auf die Pferde ein; sie zogen an, und Andri, der zum Glück grade noch hatte loslassen können, fiel längelang zu Boden, mit der Nase in den Schmutz. Ein silberhelles Lachen erscholl von oben. Er blickte auf und sah ein Mädchen am Fenster stehen, so schön, wie ihm noch keins zu Gesicht gekommen war: schwarze Augen, eine Haut, weiß wie der Schnee zur Stunde der Morgenröte. Das Mädchen lachte herzlich; dies Lachen lieh der blendenden Schönheit ihres Gesichtes zauberische Gewalt. Er war wie von Sinnen. Er sah verloren zu ihr empor und wischte sich dabei mit der Rechten den Schmutz vom Gesicht, wodurch er natürlich nur noch schmutziger wurde. – Wer war dies schöne Mädchen? Er wollte das von dem vielköpfigen, prunkvoll gekleideten Gesinde erfahren, das sich auf dem Hof um einen jungen Pandoraspieler geschart hatte. Aber die Diener und Mägde mußten hellauf lachen, als sie sein schmutziges Gesicht erblickten, und würdigten ihn keiner Antwort. Endlich erfuhr er, daß das Mädchen die Tochter des Marschalls von Kowno war, der zu Besuch in der Stadt weilte. In der folgenden Nacht stieg Andri mit echter Seminaristenfrechheit über den Zaun in den Garten, kletterte auf einen Baum, dessen Äste bis an das Hausdach reichten, schwang sich auf das Dach und ließ sich durch den Kamin geradeswegs in das Schlafzimmer seiner Schönen hinunter. Die Polin saß beim Licht einer Kerze und nahm grade die kostbaren Ringe aus ihren Ohren. Sie erschrak so furchtbar beim Anblick des fremden Menschen, daß sie kein Wort hervorbringen konnte; als sie aber sah, daß der Seminarist mit niedergeschlagnen Lidern dastand und vor lauter Schüchternheit keinen Finger zu rühren vermochte, als sie in ihm den jungen Menschen erkannte, der vor ihren Augen lang in den Schmutz geschlagen war, da packte sie wieder das Lachen. Andris Gesicht hatte eigentlich auch nichts Schreckliches – er war ein sehr hübscher Kerl. Sie lachte von Herzen und trieb eine ganze Weile ihren Spaß mit ihm. Das schöne Mädchen war eine Polin, das heißt, ein kokettes Ding; aber ihre Augen, wundervolle, durchdringend klare Augen, hatten jenen langsamen Aufschlag, der von Beständigkeit zeugt. Der Seminarist stand wie in einen Sack genäht, als die Tochter des Marschalls keck auf ihn zutrat, ihm ihr blitzendes Diadem auf den Kopf setzte, ihre Ohrringe an seine Lippen hängte und ihn in ein Jäckchen aus durchsichtigem Nesseltuch schlüpfen ließ, das mit goldnen Ranken bestickt war. Sie putzte ihn und machte tausend Dummheiten mit ihm, kindlich ausgelassen, wie es die koketten Polinnen nun einmal sind. Den armen Seminaristen machte sie dadurch immer verlegner. Er sah sehr komisch aus, wie er da stand und ihr mit offnem Mund und ohne sich zu rühren in die blendenden Augen starrte. Ein Klopfen an der Tür jagte ihr dann einen Todesschrecken ein. Sie befahl ihm, sich unter ihr Bett zu verkriechen, und als es wieder ruhig geworden war, rief sie gleich nach ihrer Zofe, einer tatarischen Gefangenen, und gab ihr die Weisung, ihn vorsichtig in den Garten hinauszugeleiten und wieder über den Zaun steigen zu lassen. Diesmal aber hatte der Seminarist weniger Glück beim Zaunklettern: der Wächter schlief nicht mehr und erwischte ihn an den Beinen, und nachher lief das Gesinde zusammen und drosch draußen auf der Straße tüchtig auf ihn ein, bis ihm schließlich die Schnelligkeit der Füße zur Rettung wurde. Darnach bildete es künftig ein zu gewagtes Unterfangen, an dem Hause vorbeizugehen; denn das Gesinde des Marschalls war groß an Zahl. Er begegnete der Schönen noch einmal in der katholischen Kirche: sie bemerkte ihn sofort und lächelte ihm strahlend liebenswürdig zu, wie einem guten Freund. Ein letztes Mal noch sah er sie dann flüchtig von weitem, und bald darauf reiste der Marschall von Kowno ab; statt der schönen schwarzäugigen Polin schaute nun irgendein fettes Weibsbild aus jenem Fenster. Dies war es, woran Andri dachte, als er so vor sich hinritt, hängenden Hauptes und den Blick auf die Mähne seines Pferdes gesenkt.
Derweil hatte längst die Steppe ihre grünen Arme um den kleinen Trupp geschlagen. Der dichte und hohe Graswuchs verbarg ihn, nur die schwarzen Kosakenmützen sahen noch zwischen den Rispen hervor.
»Potz Kuckuck, warum so trübselig, Burschen?« rief Bulba endlich und raffte sich aus der Versunkenheit auf. »Sind wir denn Mönche, was? Immer munter! Hol der Fuchs die Gedanken! Steckt euch ne Pfeife zwischen die Zähne! Rauchen wir eins, drücken wir unsern Gäulen die Sporen ein! Und los, daß uns der Vogel in den Lüften nicht nachkommt!«
Die Kosaken bückten sich auf die Gäule und verschwanden im Gras. Auch die schwarzen Mützen sah man nicht mehr, nur ein niedergetretener Streifen im Gras blieb als Spur ihres eilenden Rittes.
Die Sonne schaute schon lange von einem entwölkten Himmel herab und tauchte die Steppe in ihr belebendes, wärmendes Licht. Alle Düsternis und Verträumtheit war aus den Köpfen der Kosaken wie weggeblasen; ihre Herzen schüttelten sich gleich erwachenden Vögeln.
Die Steppe wurde schöner, je weiter sie kamen. Zu der Zeit war der ganze Süden, die grenzenlose Fläche, die das heutige Neurussland bildet, bis ans Schwarze Meer hinunter eine jungfräuliche grüne Einöde. Nie war der Pflug durch die unermeßlichen Wellen des Wildwuchses gegangen; nur die Pferde, die sich darin verstecken konnten wie in einem Walde, stampften ihn nieder. Nichts Schöneres gab es auf der Welt – der ganze Erdkreis glich einem grüngoldigen Ozean, über den Millionen von bunten Blumen ausgeschüttet waren. Zwischen den schlanken Grasstengeln schimmerte es lichtblau, tiefblau und lila, der gelbe Ginster hob seine Pyramiden darüber hinaus, das weiße Schaumkraut sprenkelte mit seinen Schirmdolden das Grün, die Weizenähren, Gott mochte wissen, woher sie kamen, reiften in dichter Fülle. Unten huschten Rebhühner mit sichernden Hälsen durch das zierliche Stengelwerk. Die Luft war erfüllt von tausend Vogelstimmen. Unbeweglich hing der Weih mit gespreiteten Flügeln im Himmel und spähte scharf in das Grasmeer. Der Schrei einer fliegenden Wolke von Wildgänsen klang von einem fernen See herüber. Aus dem Gras erhob sich trägen Flügelschlages die Möwe. Und schon ist sie hoch, hoch oben, du siehst sie nur noch als schwarzen Punkt; da macht sie eine Wendung mit den Flügeln und blitzt hell in der Sonne . . . Hol dich der Teufel, Steppe, schön bist du!
Unsere Reisenden machten zu Mittag nur kurze Rast. Die zehnköpfige Kosakenabteilung, die sie begleitete, saß ab und packte die hölzernen Schnapsflaschen