Berührungen. Gunter Preuß
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Eine Reise zurück (Verbotene Türen, 1985)
Bernhard war angespannt und ohne Hoffnungen in das Dorf der drei Hügel zurückgekommen. Der Bauernhof der Großeltern, die Kirche und der Friedhof überragten weiterhin die kleinen buckeligen Häuser, die sich zu beiden Seiten der kopfsteingepflasterten engen Straße aneinanderdrängten. Nichts hatte sich verändert, und doch erschien ihm alles fremd. Die Wirklichkeit zerstörte manchen Zauber der Erinnerung, und er machte die Entdeckung, dass zurückgeholte Vergangenheit schmerzliche Enttäuschung mit sich brachte. Das Gefühl der Fremdheit kam für ihn nicht vom Äußeren der Menschen und Dinge, sondern aus ihrem Inneren. Auf dem Friedhofshügel sang wie damals der Wind in den gewaltigen uralten Bäumen, aber seine Melodie war eine andere; das Wasser des Baches hatte noch die gleiche Kälte und Beredsamkeit, aber Bernhard verstand seine Worte nicht mehr; die Sonne erkannte er nicht mehr als die ihm Glück verheißende goldene Murmel, derentwegen er in die Wipfel der Bäume gestiegen war, sie war ein fremdes Gestirn, von dem Bruder Werner ihm gesagt hatte, dass seine mittlere Entfernung von der Erde einhundertneunundvierzig Komma sechs Millionen Kilometer betrüge. Die Menschen hier erschienen ihm wie verwandelt. Darüber erschrak er.
Es war Sommer, aber die Kinder waren nicht auf den Feldern. Auf dem Friedhofshügel belauerten zwei Jungen, hinter schief stehenden Grabsteinen versteckt, einander. Beim Umherirren fand er heraus, dass die älteren Jungen und Mädchen Mitglieder im neu gegründeten Ruderverein »Aufbau Jöseritz« waren. Sie ruderten auf dem Fluss oder arbeiteten in einem Schuppen mit Laubsäge, Sperrholz und Leinen an einem Bootskörper. Am Flussufer standen geflickte Zelte, in denen die Jungen und Mädchen übernachteten. Wer nicht bei den Ruderern war, trainierte auf dem Fußballplatz im Nachbardorf. Die Mädchen besuchten einen Zirkel für Volkstanz. Jeden Sonnabend gab es im ehemaligen Vereinszimmer vom Gasthof »Zum Ross« eine Filmvorführung oder Tanzveranstaltung. Die Jungen und Mädchen sprangen dann an den Fenstern hoch, um neugierige Blicke nach drinnen zu werfen. Die Kleinen spielten Verstecken und Haschen, bis sie von den Eltern oder Geschwistern nach Hause gerufen wurden.
Bernhard traf bei den Bootsleuten auf alte Bekannte. Sofort hatte er Jessner-Franz im Blick. Der Junge war noch länger geworden, die Narbe zwischen seinen Augen schien sich vertieft zu haben, seine Hände waren blaurot, das Haar war kurz geschnitten und sturzelte ihm in Büscheln in die Stirn. Der Stimme des ehemaligen Tagelöhnersohnes war anzuhören, dass er bei den Bootsleuten etwas galt. Er rannte von einem zum anderen, packte dort und da mit zu und hatte ständig was zu rufen und zu fluchen. Er hielt sich oft bei Karla auf, die gewachsen war und statt der Zöpfe die Haare kurz trug, aber sonst so aussah, wie er sie in Erinnerung hatte. Bernhard bemerkte schnell, dass Jessner-Franz sie nie anschrie und oft ihren Blick suchte.
Da kam Jessner-Franz zu den Weidensträuchern gerannt, hinter denen Bernhard sich verbarg.
»He! Was hast du hier zu suchen?«, rief er. »Kannst du nicht lesen? Betreten verboten!«
Bernhard trat aus dem Schatten der Büsche.
»Was willst du? Ich kenne dich nicht. Du bist nicht von hier. Also hau ab, bevor ich dir Beine mache!«
Bernhard sah den Jungen nur böse an und rührte sich nicht vom Fleck. Die Jungen und Mädchen hatten ihre Arbeit unterbrochen und schauten herüber. Karla schrie kurz auf, ließ den Pinsel fallen, lief ein paar Schritte auf Bernhard zu und blieb dann stehen.
»Ist was?« Jessner-Franz sah fragend zu ihr. »Kennst du den?« Er drehte sich wieder Bernhard zu und sagte in alter Feindseligkeit: »Du bist der Mainbach, na klar. Der Bernhard Mainbach bist du.«
»Ich bin kein Mainbach«, entgegnete Bernhard diesem Jungen, der wohl immer sein Feind sein würde. Zu Karla gewandt sagte er bestimmt: »Ich bin Bernhard Teichmann.«
Die Jungen und Mädchen flüsterten miteinander, lachten und wanden sich wieder ihrer Arbeit zu.
»Aber ihr kennt mich doch«, rief Bernhard erschrocken. »Ihr müsst mich kennen! Als die Amis im Dorf waren, haben wir für Kaugummi und Schokolade gegeneinander geboxt! Und als die Russen kamen, haben wir uns ein Erdloch gegraben, weil es hieß, sie bringen die Kinder nach Sibirien! Später dann sind wir auf diesem Schinder, den sie Karascho nannten, geritten!«
Bernhard wartete, doch das Schweigen der anderen erschien ihm undurchdringlich. Er wandte sich ab, wartete noch ein paar Augenblicke und ging dann weg. Zurück am Ort seiner Kindheit war er ein Fremder unter Fremden. Warum nur war der Zug nicht weitergefahren, viel weiter, hin zu diesem Land am Ende der Welt, von dem die Märchen erzählten, das hinter siebenmal sieben Bergen und siebenmal sieben Flüssen lagen, wo die Menschen einander lieben und miteinander spielen konnten. Aber keiner kannte den Weg dorthin, vielleicht nur Charly, aber der Bruder hütete seine Kenntnis, als fürchtete er, ein anderer könnte dorthin gelangen und den Zauber zerstören.
Bernhard lief in die Wiesen zu den Mähern und arbeitete mit ihnen, um zu vergessen. Spätabends kehrte er müde und zerschlagen auf den Mainbachschen Hügel zurück, schlang das Essen hinunter, legte sich ins Bett, sprang wieder auf, lief durchs Haus, hörte das Knacken des Holzes, Großmutters Gebete, Großvaters röchelndes Schnarchen, Tante Marthes aufbegehrendes Stöhnen aus sommerschweren Träumen, Schwester Ritas lustvolles Kichern und Onkel Arnos schwer aufsetzende ruhelose Schritte.
Bernhard schlich aus dem Haus. Er kletterte über die Gehöftmauer und legte sich auf das üppige Gras des Hügels. Er sah in die treibenden Wolken, fand einen kleinen Stern, dem er sich anvertraute und der ihn in den Schlaf führte.
Bernhard lebte in diesen Sommerwochen auf dem Hügel in der Nähe des Todes, ohne dass er sich von ihm auch nur gestreift fühlte. Er erkannte seine Herrschaft über Haus und Hof. Bernhard versuchte, mit seiner älteren Schwester über das Gehöft der Großeltern und seine Bewohner zu sprechen. Rita hörte kaum hin und lachte herausfordernd, es war Abend, unten im Dorf spielte eine Kapelle zum Tanz. Sie wiegte sich geschmeidig, den Kopf in den Nacken geworfen und die Arme in die Hüften gestemmt, vor einem alten Wandspiegel. Ihr buntes Kleid umspielte ihren schlanken, aber lockend weiblichen Körper wie eine Welle. Ihr Gesicht und die nackten Arme und Beine waren leicht gebräunt und straff. Eine Flut blonden Haare umspielte ihre Schultern. Bernhard wünschte, sie würde aufhören zu lachen, es klang ihm wie das Gewieher der Stute, wenn sie durch die Stallmauern hindurch den Hengst spürte, der auf dem Hof mit den Hufen scharrt und am Zügel riss.
Bernhard wollte das Zimmer verlassen, aber er stand wie festgehalten. Er dachte daran, dass sich von Rita zu der Reise nicht hätte überreden lassen sollen. Überraschend zog sie ihn an sich, schloss ihn fest in ihre Arme, bedeckte seine Stirn mit Küssen und schluchzte heftig. Er hielt still, überwältigt und gedemütigt. Als sie ihn dann von sich stieß – sie standen sich taumelig gegenüber – fragte sie leise: »Hast du deine große Schwester ein wenig lieb, Bernd? Hast du mich lieb?«
Vor seinen Augen flimmerte es, seine Hände verkrampften sich, er brachte es nicht fertig wegzulaufen. Rita sagte beschwörend: »Du musst mich liebhaben, hörst du. Wir müssen uns liebhaben!«
Sie packte ihn derb an den Schultern, schüttelte ihn und schrie: »Hast du deine Schwester lieb? Sag es! Dass du mich liebhast!«
Bernhard brachte kein Wort heraus, er war nahe daran loszuheulen.
»Sieh mich an«, forderte Rita unnachgiebig. »Du siehst mich jetzt an und sagst, ob du deine Schwester liebhast.«
Bernhard versuchte den Kopf zu heben, aber es ging nicht. Er fühlte seinen Körper so hart und unbeweglich, dass er nie wieder zu einer Bewegung fähig sein