Der 884. Montag. Gunter Preuß
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Ich keuchte schon, wenn ich mich von der Liege zur Toilette und zurück-schleppte. Meine Rettung war, dass Olga mich gewaltig mit Vorwürfen nervte. Immer wieder hielt sie mir meinen Paukervater als leuchtendes Beispiel eines braven Mannes vor Augen.
Von den Typen, die sich Väter nannten, hatte ich drei. Dabei hätte mir ein Richtiger schon genügt. Den Ersten, der an meiner Fabrikation beteiligt war - ich nenne ihn Jack, den Seemann - kenne ich nur von einer Fotografie. Sie ist leider so verwischt, dass sie alle Deutungen vom Missionar bis zum Massenmörder offenlässt. Bei Olgas Sprüchen kommt Jack ziemlich schlecht weg, ohne dass sie was Konkretes verrät. Ich kann mir nur zusammenreimen, er hat sich am Sozialistischen Friedenswall seinen Kopf verbeult. Und als er den Makrelengestank nicht mehr aushalten konnte, ist er über die Ostsee nach Dänemark gepaddelt. Von dort aus hat der alte Wikinger die Weltmeere befahren und ab und zu mal Landluft geschnuppert. Es gibt eine Ansichtskarte vom Hafen in Rio. Darauf fragt er bei Olga an, warum sie denn nicht auf seinen Brief antwortet und was sie zu seinem Vorschlag sagt? Ich denke, Jack hätte es gern gesehen, dass Olga und ich über die Grenze segeln und zu ihm kommen. Aber Olga wollte wohl nicht. Sie war in der Partei und hätte den Kommunismus nie verraten, wie sie heute noch sagt. Und jetzt verrät Olga den Kapitalismus nicht, denn sie glaubt an das Gute. Gut ist für sie, was sie ihr erzählen, dass es gut sei.
Mein zweiter Vater war Pauker. Er lehrte mich, den Mund aufzumachen, bevor es in die Hose ging. Der Mann war Spezialist in Geburts- und Todestagen von berühmten Leuten. Er roch nach Kreide und war so ein Pykniker mit durchgesessenen Hosen. Der Dritte schließlich war Buchhalter. Er hatte ein Heft, das er mit verklemmten Witzen vollkleisterte. Wenn er bei einer Familienfeier randvoll war, las er daraus vor. Olga hat die letzten zwei ordnungsgemäß unter die Erde gebracht. Beide auf einem Fleck. Platz hat sie noch für zwei, drei mehr gelassen.
Am liebsten ist mir Jack der Seemann. Wenn ich manchmal sein Bild an-sehe, schmecke ich das Salz des Meeres, spüre einen frischen Wind um meine Nase wehen und rieche geteerte Decksplanken. Der Seemann ist verschollen. Keiner spricht mehr von ihm. Auch Olga ist kein Sterbenswörtchen zu entlocken. Ab und zu trinken Jack und ich ein Glas Grog zusammen. Wenn bei mir der Pegel auf Null steht. Er ist ein verdammt feiner Kerl. Nur ist er wie alle feinen Kerle ein Gespenst, das einem zwar oft im Kopf herumspukt, aber nie lebendig werden will. Das muss doch einen Grund haben.
Da es mit der christlichen Seefahrt bei mir nichts wurde - wegen meiner Pumpe eben -, ist mir Schwachstromer schon lieber als Pauker. Heraussuchen konnte ich mir die Lehrstelle nicht. Nach tausend Bewerbungen hätte ich höchstens noch Verkäufer werden können. Aber ich will am großen Beschiss nicht teilhaben und all den teuren Müll unter die Leute bringen. Als Friseurlehrling hätte es wohl auch noch geklappt, das Strohgeschäft fährt jede Menge Kies ein. Denn wer nichts im Denkapparat hat, will wenigstens einen schnurgeraden Scheitel oder Locken darauf haben.
Bevor ich in der Pathologie bei den Technikfreaks gestrandet bin, fuhr ich auf dem Güterboden Kisten in die Waggons und andere raus. Ich hätte es dort bestimmt eine Woche länger ausgehalten. Doch so ein granitalter Gehirnamputierter, der als Nachtwächter engagiert war, erzählte uns immer wieder aus dem Krieg, wie er sich durch ganz Frankreich gebumst und nur von verdammtem Champagner gelebt hätte. Und wie sich die heutige Jugend in die Hosen scheißen würde, wenn es mal plauzen täte. Ich konnte keinen Tag länger bleiben, sonst wäre was passiert, wofür es keine Bewährung gibt.
Danach ging ich zum Theater. Dort habe ich fleißig Kulissen geschoben und mir jeden Abend die vermotteten Arien von einem knödelnden Othello und einer runtergebrannten Desdemona anhören müssen. Hier hat es mir am meisten gestunken. Die Leute haben den ganzen Tag großmäulig von Mitsprache bei Besetzungsfragen gesäuselt. Doch in Wirklichkeit hatten sie mächtige Angst vorm Intendanten. Sie sanken schon auf die Knie, wenn nur sein Name genannt wurde. Den Rest aber gaben mir ein paar schwule Freddys vom Ballett gegeben, die nach Veilchenseife und Kölnischwasser mieften und einander Eifersuchtsszenen machten. Das alles fand ich noch ganz in Ordnung. Aber als dann einer hinter mir her war, wie ich noch nie hinter einem Mädchen, nahm ich meinen Abschied.
Nun war ich also in diesem Kellerloch auf Grund gelaufen. Ich hörte von weither Schiffssirenen rufen und Möwen schreien. Ich wollte gerade eine exakte Kehrtwende vollziehen, da drückte mir Kauer eine Werkzeugtasche in die Hand und sagte: "Na denn, Mutzelkopp, wollen wir mal."
Mutzelkopp - ich hieß schon Säckel, Bruni, im Paukklub Einstein, in meiner Punkerzeit Grüne Wolke, bei den Neo-Glatzköppen Göbbels, und die Gruftis riefen mich Schneller Tod. Aber niemals hieß ich Mutzelkopp. Das schmeckte mir doch verdammt fischig. Ich hätte dafür Kauers pomadisierten Skalp von seinem Schädel ziehen sollen.
Doch ich gab den anderen ordentlich Pfötchen und machte vor jedem einen Knicks. Sie hatten allesamt einen Blick drauf, als wüssten sie nicht, in welche Schublade sie mich stecken sollten. Aus der Neuzeit war von ihnen keiner mehr. Sie waren alle Mittelalter bis finsterstes Tertiär. Schimmel hatte jeder schon angesetzt in diesem Verlies.
An der Tür stieß ich mit Firat zusammen. Meine blaue Feder rutschte hinters Ohr, was ich sofort korrigierte. Ich habe keinen Schimmer, ob der Terz beabsichtigt war. Aber er sah mich an, als sollte ich eine stilreine Entschuldigung loslassen. Ihm war eine Zange aus der Werkzeugtasche gefallen. Er machte keine Anstalten, sich zu bücken. Alle standen an der Tür und guckten auf die Zange und auf mich. Schließlich krümmte sich Kauer und steckte das Werkzeug in Firats Tasche zurück.
4.
Als ich mit Kauer durchs Klinikgelände joggte, sagte er: "Der Firat ist gar nicht so übel, Mutzelkopp. Man muss ihn nur zu nehmen wissen. Von Schwachstrom versteht er eine ganze Menge. Überhaupt. Er lässt sich nichts vormachen."
Die Sonne knallte uns auf die Köpfe. Wir krochen in einen Schuppen, der sich Labor nannte und wo den Patienten Blut abgezapft wurde. Kauer und ich rissen Strippen von den Wänden und nagelten neue an. Mir gelang es tatsächlich, die Nägel gerade in die Wand zu hämmern.
Ich sagte: "Und wenn man ihn nicht zu nehmen weiß, den Firat?"
Kauer umkurvte einen ausgedienten Catcher, der sich Oberschwester nannte, und meinte: "Du wirst das schon noch mitkriegen, wie der Hase läuft. Darfst nur keinen Firlefanz veranstalten."
Punkt neun ließ Kauer Hammer und Zange fallen. Er schluckte drei bunte Pillen und wickelte ein stinkiges Käsebrot aus, von dem er jeden Bissen vorschriftsmäßig fünfundzwanzig Mal kaute. Das hinderte ihn nicht, mir zu er-zählen, wie viel Urlaub ich zu beanspruchen hätte, dass wir Überstunden weder bezahlt bekämen noch abfeiern könnten. Und dass ich eine Lebens-versicherung eingehen sollte, und was er sonst alles noch drauf hatte.
Ich sagte: "Und wenn ich nicht mitkriege, wie der Hase läuft - was ist dann?"
Kauer kaute weiter, sah mich an und sagte: "Das wirst du schon schaffen, Mutzelkopp. Du hast doch alle beisammen. Denk ich. Oder? Was meinst du?"
"Und wenn ich es gar nicht schaffen will?" Ich stieß ein Fenster auf, weil ich sonst an dem verdammten Käsegestank totgegangen wäre. "Nimm mal an, ich will es nicht schaffen."
"Mach doch mal die Tür zu", sagte Kauer. "Ich hab's im Kreuz. Weißt du. Hier zwischen unten und oben. Ich kann keinen Zug vertragen. Schon der leiseste