Die Schiffbrüchigen der JONATHAN. Jules Verne
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Im Norden und Westen vom Vorgebirge Espiritu Santo bis zum Magdalenen-Sund ist die Küstenlinie wild zerrissen. Nach Westen springt eine schmale Halbinsel ins Meer vor, die den Berg Sarmiento (2.070 m) trägt; im Südosten endigt die Insel in der Spitze San Diego; sie sieht einer zusammengekauerten Sphinx ähnlich, deren Schweif in die Wasser der Straße von Le Maire taucht.
Im Monat April 1880 haben sich auf eben dieser Insel die im vorigen Kapitel erwähnten Begebenheiten abgespielt. Die Meeresstraße, die der Kaw-djer während seiner fieberhaften Betrachtung vor Augen hatte, war der Beagle-Kanal, der das Feuerland im Süden begrenzt und dessen jenseitiges Ufer von den Inseln Gordon, Hoste, Navarin und Picton gebildet wird. Noch südlicher entfaltet sich die Inselwelt des Kap Hoorn.
Zehn Jahre vor dem Beginn dieser Erzählung war der Mann, dem die Indianer später den Namen Kaw-djer beigelegt hatten, zum ersten Male auf feuerländischem Boden aufgetaucht. Wie war er hergekommen? Ohne Zweifel an Bord eines der zahlreichen Segelschiffe oder Dampfer, die das Labyrinth von Wasserstraßen befahren, das sich innerhalb des Magalhães-Archipel und jenen Inseln ausbreitet, die dessen Fortsetzung im Stillen Ozean bilden.
Handelsbeziehungen verknüpfen sie mit den Eingebornen, deren Jagdbeute an Tierfellen (von Guanakos, Vikunas und Seewölfen) sie sehr zu schützen wissen.
Die Gegenwart dieses Fremden ließ sich auf die Weise leicht erklären; auf andere Fragen, seinen Namen, seine Nationalität betreffend, war die Antwort schwerer zu finden; man ahnte nicht einmal, ob er der Alten oder Neuen Welt entstamme.
Man wusste gar nichts von ihm. Um der Wahrheit die Ehre zu geben, muss gesagt werden, dass von niemandem der Versuch gemacht worden war, Klarheit in diese Angelegenheit zu bringen. Welches wäre auch die Persönlichkeit gewesen, die in diesem Lande, das keine Autorität anerkannte, ein Recht gehabt hätte, ihn auszufragen? Er lebte ja nicht in einem gesetzlich geordneten Staate, wo die Polizei der Vergangenheit jedes einzelnen nachforscht, wo es unmöglich ist, längere Zeit unerkannt zu bleiben. Hier war niemand mit irgendwelchen Machtvollkommenheiten versehen, hier lebte man außerhalb des Bannkreises feststehender Gebräuche und Gesetze, kleinlicher Vorschriften, hier war das Land der Freiheit!
Während der ersten zwei Jahre seiner Anwesenheit auf dem Feuerlande hatte der Kaw-djer keinen bestimmten Ort zum bleibenden Wohnsitze gewählt. Er war bald hier, bald dort zu finden, durchkreuzte die ganze Gegend in abenteuerlichen Fahrten und schloss Freundschaft mit den Eingebornen; niemals aber berührte er die wenigen von Ansiedlern der weißen Rasse bewohnten Niederlassungen. Wenn er jemals mit einem der Schiffe in direkte Verbindung trat, die irgendeinen Punkt des Archipels anliefen, so geschah dies nur, wenn er für einen Feuerländer den Zwischenhändler abgab oder sich mit Munition und Arzneien neu versehen musste. Diese Einkäufe bezahlte er entweder mit Tauschobjekten oder in spanischem oder englischem Gelde, mit dem er reichlich versehen zu sein schien.
Sonst war er auf steter Wanderung von Stamm zu Stamm, von Lagerplatz zu Lagerplatz begriffen. Er lebte, wie die Eingebornen, vom Ertrage der Jagd und des Fischfanges; hielt sich bald bei den Bewohnern der Küstengegenden, bald bei den Völkerschaften im Inneren des Landes auf, wohnte in ihren Zelten, pflegte und heilte die Kranken, unterstützte die Witwen und Waisen und war bald der Gegenstand dankbarster Verehrung dieser armen Leute, die ihm den glorreichen Namen beilegten, unter dem er von einem Ende des Archipels zum anderen bekannt und geliebt war.
Es konnte kein Zweifel darüber herrschen, das der Kaw-djer ein sehr unterrichteter, gebildeter Mann war, besonders in den Heilswissenschaften musste er eingehende Studien gemacht haben. Er sprach auch geläufig mehrere Sprachen: Franzosen, Engländer, Deutsche, Spanier und Norweger hätten ihn getrost für einen Sohn ihres Landes ansehen können. Diesen polyglotten Kenntnissen hatte diese rätselhafte Persönlichkeit natürlich sehr bald die Landessprache hinzugefügt, den yacanischen Dialekt. Dieses Idiom, das im ganzen Magalhães-Archipel gesprochen wird und das auch die Missionare zu ihren Bibelübersetzungen benützen, beherrschte er fließend.
Der Magalhães-Archipel, wo der Kaw-djer sein Leben zuzubringen gedachte, ist durchaus keine unbewohnbare Gegend, wie man gewöhnlich annimmt, wenn man es nach dem Rufe beurteilt, den ihm die Berichte der ersten Erforscher geschaffen haben (im Band 133e dieser maritimen gelben Buchreihe berichtet Georg Forster über die Erdumsegelung des James Cook und den Aufenthalt in Feuerland). Allerdings wäre es übertrieben, der Gegend den Namen eines irdischen Paradieses beizulegen und es wäre lächerlich, leugnen zu wollen, dass sein äußerstes Vorgebirge, das Kap Hoorn, von den fürchterlichsten Stürmen heimgesucht wird, die an Heftigkeit und häufigem Auftreten ihresgleichen suchen. Und doch gibt es viele Länder, selbst in Europa, die eine zahlreiche Bevölkerung zu ernähren haben und wo die Existenzbedingungen noch härter sind als hier. Wenn auch das Klima naturgemäß ein sehr feuchtes ist, so verdankt anderseits der Archipel den umgebenden Wassern eine sehr geregelte, gleichmäßige Temperatur, die eisigen Winter des nördlichen Russlands, Schwedens und Norwegens sind ihm unbekannt. Die mittlere Temperatur fällt im Winter nie unter 5 Grad Celsius und steigt im Sommer zur Zeit der größten Hitze nie über 15 Grad.
Trotz der gänzlich fehlenden meteorologischen Beobachtungen genügt der bloße Anblick dieser Inseln, um alle Äußerungen eines übertriebenen Pessimismus zum Schweigen zu bringen. Die Vegetation erreicht hier eine Üppigkeit, die ihr in der kalten Zone versagt sein würde. Die herrlichsten Weideplätze von ungeheurer Ausdehnung finden sich hier, die zahllosen Herden Nahrung in Überfluss bieten könnten, und endlose Waldungen, in denen die Buche, die Birke, der Sauerdorn und der Zimtbaum herrlich gedeihen.
Gewiss würden sich auch unsere Gemüsepflanzen und Hülsenfrüchte leicht akklimatisieren; selbst die Getreidearten, der Weizen mitgerechnet, könnten hier ein leichtes Fortkommen finden.
Unbewohnbar ist dieser Landstrich nicht, aber fast unbewohnt. Seine Bevölkerung besteht in einer kleinen Anzahl von Indianern, welche man unter dem Namen „Feuerländer“ oder „Yacanas“ kennt, wirklichen Wilden, welche auf der allertiefsten Stufe der menschlichen Gesellschaft stehen und in diesen einsamen Ebenen ein elendes Wanderleben führen. –
Lange vor dem Zeitpunkt, mit dem diese Geschichte einsetzt, hatte Chile an der Magalhães-Straße die Station Punta-Arenas gegründet, dabei wurde vorübergehend seine Aufmerksamkeit auf jene unbekannten Gegenden gelenkt. Aber weiter ging das Interesse nicht und trotz des Aufblühens der neugegründeten Niederlassung wurde kein Versuch gemacht, auf dem Magalhães-Archipel festen Fuß zu fassen.
Welche Kette von Ereignissen hatte wohl den Kaw-djer in diese der Mehrzahl der Menschen unbekannte Region geführt? Auch das war Geheimnis; aber dieses Mysterium war doch vielleicht zu ergründen.
Der stolze Ruf, der von der Höhe der Klippe wie eine Herausforderung des Himmels, ein leidenschaftlicher Dank an die herrliche, freie Natur erklungen war, ließ manches erraten.
„Kein Gott! Kein Gebieter!“ So lautet der Wahlspruch der Anarchisten. Die Vermutung musste naheliegen, dass der Kaw-djer dieser Verbindung angehörte, die sich aus den heteroklitesten Elementen zusammensetzt, aus einer bunt untereinander gewürfelten Menge von Verbrechern und Dunkelmännern besteht und nur wenige erleuchtete Köpfe zählt. Jene sind neid- und hasserfüllte Egoisten, immer zu Raub und Mord und jeder Gewalttat bereit; diese Idealisten, Dichter, welche von einer neuen Menschheit träumen, die über den