Candide. Voltaire

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Candide - Voltaire

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an ein einzeln stehendes, von Gärten und Kanälen umgebenes Haus. Die Alte klopft an eine kleine Tür. Man öffnet. Sie führt Kandid über eine Hintertreppe in ein reich geschmücktes, von Golde glänzendes Kabinett, nötigt ihn, auf einem brokatnen Sofa Platz zu nehmen, verschließt die Tür wieder und geht fort. Kandid glaubte zu träumen; sein ganzes Leben erschien ihm als ein furchtbares und der gegenwärtige Augenblick als ein heiteres Traumgesicht.

      Die Alte stellte sich bald wieder ein. Sie unterstützte mit Mühe eine von Edelsteinen strahlende, verschleierte Dame von majestätischem Wuchs, die in heftiger Aufregung zu sein schien.

      »Hebt diesen Schleier auf,« sprach die Alte zu Kandid.

      Der junge Mann tritt hinzu; mit schüchterner Hand hebt er den Schleier. - Welch ein Augenblick! Welche Überraschung! Er glaubt Kunigunden zu sehen; er sieht sie in der Tat; sie ist es selbst. Die Kräfte verlassen ihn, er kann kein Wort hervorbringen; zu ihren Füßen sinkt er hin. Kunigunde fällt auf das Sofa zurück. Die Alte besprengt sie mit geistigen Tropfen; sie kommen wieder zur Besinnung, sie reden mit einander. Anfangs vermögen sie nur abgebrochene Worte hervorzubringen, nur Fragen und Antworten, die sich kreuzen, nur Seufzer, Tränen und Ausrufungen. Die Alte empfiehlt ihnen, weniger Geräusch zu machen, und lässt sie allein.

      »Wie! Sie sind es!« spricht Kandid, »Sie leben! hierin Portugal finde ich Sie wieder! Man hat Ihnen also keine Gewalt angetan, Ihnen nicht den Leib aufgeschlitzt, wie der Philosoph Pangloß versicherte?«

      »Allerdings,« erwiderte die schöne Kunigunde;»allein man stirbt von dergleichen Begegnissen nicht immer gleich.«

      »Aber Ihre beiden Eltern wurden erschlagen?«

      »Ach, das ist nur zu wahr,« sprach Kunigunde weinend.

      »Und Ihr Bruder?«

      »Auch mein Bruder wurde getötet.«

      »Und wie wurden Sie nach Portugal verschlagen? Wie erfuhren Sie, dass ich hier war? und durch welche seltsame Verkettung der Begebenheiten kam es dahin, dass Sie mich in dies Haus führen ließen?«

      »Sie sollen Alles wissen, aber erst müssen Sie mir ausführlich erzählen, was Ihnen seit dem unschuldigen Kusse, den Sie mir gaben, und den Fußtritten, die Sie empfingen, widerfahren ist.«

      Kandid gehorchte mit tiefer Ehrfurcht und erzählte, trotz seiner Verwirrung, trotz seiner schwachen und unsicheren Stimme und der noch nichtvöllig beseitigten Rückenschmerzen, aufs treuherzigste Alles, was ihm seit dem Augenblick ihrer Trennung begegnet war.

      Kunigunde blickte zum Himmel empor; sie beweinte den Tod des braven Wiedertäufers und des Doktors Pangloß und begann sodann ihre Erzählung, wovon Kandid, der sie mit den Augen verschlang, nicht eine Silbe verlor.

      Achtes Kapitel: Kunigundens Geschichte.

      »Ich lag ruhig schlummernd in meinem Bette, als es dem Himmel gefiel, unserschönes Schloß Thundertentronckh mit der Ankunft der Bulgaren heimzusuchen. Sieerwürgten meinen Vater und meinen Bruder und hieben meine Mutter in Stücken. Ein großer, sechs Fuß langer Bulgare, welcher sah, daß ich bei diesem Anblick das Bewußtsein verloren hatte, fiel mit frecher Gier über mich her. Dies brachte mich wieder zu mir selbst, ich raffte mich auf, ich schrie, ich wehrte mich, ich biß, ich kratzte, ich wollte dem großen Bulgaren die Augen ausreißen, da ich nicht wußte, daß Alles, was im Schlosse meines Vaters geschah, etwas ganz Gewöhnliches sei. Der rohe Mensch versetzte mir einen Messerstich in die linke Seite, wovon ich noch die Narbe trage.«

      »Ach! ich möchte sie wohl sehen,« sprach Kandid in seiner Unschuld.

      »Sie sollen sie sehen,« sprach Kunigunde; »doch hören Sie weiter.«

      »Ich bin ganz Ohr,« sprach Kandid.

      Sie fuhr in ihrer Erzählung fort: »Ein bulgarischer Hauptmann trat ein. Er sah mich im Blute schwimmen und den Soldaten, der sich durch seine Dazwischenkunft durchaus nicht stören ließ. Er geriet in heftigen Zorn über diesen Mangel an Respekt und hieb den Rohen auf der Stelle nieder. Darauf ließ er mich verbinden und führte mich als Kriegsgefangene in sein Quartier. Ich wusch seine wenigen Hemden und besorgte seine Küche. Er fand mich, wie ich gestehen muß, sehr hübsch, und ich leugne auch nicht, daß er sehr wohlgebildet war und eine weiße, feine Haut hatte; übrigens wenig Geist, wenig Philosophie! man sah wohl, daß der Doktor Pangloß ihn nicht unterrichtet hatte. Da er nach drei Monaten all sein Geld verloren hatte und meiner überdrüssig geworden war, verhandelte er mich an einen Juden, der sich Don Isaschar nannte, in Holland und Portugal Handel trieb und leidenschaftlich auf die Weiber versessen war. Dieser Jude gab sich außerordentliche Mühe um mich, vermochte aber seine Absichten nicht durchzusetzen. Ich widerstand ihm besser, als dem bulgarischen Soldaten. Ein Frauenzimmer von Ehre kann einmal der Gewalt unterliegen, doch dadurch schlägt ihre Tugend nur um so festere Wurzeln. Um mich zahm zu machen, brachte der Jude mich in dies Landhaus. Bisher hatte ich geglaubt, es gebe auf Erden nichts Schöneres, als das Schloß Thundertentronckh. Diese Täuschung hörte hier auf.«

      »Eines Tages bemerkte mich der Großinquisitor in der Messe. Erfaßte mich scharf ins Auge und ließ mir nachher sagen, er müsse mich in geheimen Angelegenheiten sprechen. Ich wurde in seinen Palast geführt; ich unterrichtete ihn von meiner Herkunft; erstellte mir vor, wie sehr er unter der Würde meines Standes sei, einem Israeliten anzugehören. Man machte in seinem Namen Don Isaschar den Vorschlag, mich Sr. Hochwürden-Gnaden abzutreten. Don Isaschar, der als Hofbankier ein Mann von Einfluß ist, wollte sich auf nichts einlassen. Der Großinquisitor drohte ihm mit einem Auto da Fe. Dadurch eingeschüchtert verstand sich der Jude endlich zu einer Übereinkunft, wonach ich samt diesem Hause Beiden gemeinschaftlich angehören sollte. Der Jude sollte die Montage, Mittwochen und den Sabbathtag für sich behalten, während die übrigen Wochentage dem Inquisitor zufielen. Seit sechs Wochen besteht dieser Vertrag. Doch ist es nicht ohne Streitigkeiten abgegangen, da man sich oft nicht darüber vereinigen konnte, ob die Nacht vom Sonnabend auf den Sonntag dem alten oder dem neuen Bunde gehöre. Was mich betrifft, so widerstand ich bis jetzt Beiden, und das ist, glaub' ich, der Grund, weshalb ihre Liebe noch immer nicht erkaltete.

      Um die Landplage der Erdbeben abzuwenden und auch wohl um Don Isaschar einzuschüchtern, beliebte es endlich dem Herrn Großinquisitor, ein Auto da Fe anzustellen. Er erzeigte mir die Ehre, mich dazu einzuladen. Ich bekam einen vortrefflichen Platz; während der Pause zwischen der Messe und der Exekution wurden den Damen Erfrischungen präsentiert. Ich wurde zwar schon von Schauder ergriffen, als ich die beiden Juden und den ehrlichen Biskayer, der seine Gevatterin geheiratet hatte, verbrennen sah; allein wie groß war erst meine Überraschung, mein Entsetzen, meine Verwirrung, als ich in einem Sanbenito und unter einer Mitra eine Gestalt, ein Gesicht sah, worin ich Pangloß erkannte! Ich rieb mir die Augen, ich betrachtete ihn genau, ich sah ihn hängen; ich wurde ohnmächtig. Kaum wieder zu mir selbst gekommen, sah ich, wie man Sie, Kandid, nackt auszog. Höher konnte meine Bestürzung, mein Entsetzen, mein Schmerz, meine Verzweiflung nicht steigen. Ich gebe nur der Wahrheit die Ehre, wenn ich Ihnen sage, daß Ihre Haut an Weiße und rosiger Frische die meines bulgarischen Hauptmanns noch übertrifft. Dieser Anblick verdoppelte die Macht der Gefühle, die auf mich einstürmten, die mein Inneres verzehrten. Ich schrie laut auf, ich wollte rufen: Haltet ein, Barbaren! allein die Stimme versagte mir, und mein Geschrei wäre auch vergeblich gewesen. Nachdem Sie tüchtig durchgepeitscht waren, sprach ich bei mir selbst: Wie geht es nur zu, daß der liebenswürdige Kandid und der weise Pangloß hier in Lissabon sind, der Eine um hundert Peitschenhiebe zu bekommen, der Andre um gehängt zu werden, Alles auf Befehl des gnädigen Herrn Großinquisitors, der mich zu seinem Liebchen ausersehen? Pangloß hat mich also grausam getäuscht, wenn er sagte, daß Alles in der Welt aufs beste eingerichtet ist!

      Ganz

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